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Mittendrin. Noch in der Reha fing David Lebuser mit dem Chairskating an. Andere Skater bewundern ihn oft für seine kühnen Tricks.

© Björn Kietzmann

Rollstuhlskating: Von der Rolle

Seit einem Unfall kann David Lebuser nicht mehr laufen. Jammern? Kommt für ihn nicht infrage. Er hat das Chairskating entdeckt.

Der Mann mit den zertrümmerten Lendenwirbeln steht am Abgrund und kippelt, als säße er in einem Schaukelstuhl auf einer Veranda und nicht auf der äußersten Kante einer Halfpipe, mehr als vier Meter tief. Vorher hat er gesagt: „Ich werde mir richtig einscheißen.“ Er zurrt die Gurte fest, damit er nicht aus dem Rollstuhl fliegt. Als er noch laufen konnte, stand er schon mal da oben – und ist umgekehrt.

Es ist kalt in der Skatehalle in Friedrichshain, Skateboards knallen auf die Rampen, eine dumpfe Kakofonie. Der Mann mit den zertrümmerten Lendenwirbeln legt sich nach vorn. Springt. Rudert mit den Armen durch die Luft. Legt sich voll auf die Fresse. Die rechte Vorderachse bricht, ein Rad kullert durch die Gegend. Die Knieschoner hat er vergessen.

Die Halfpipe zu droppen – unter Skatern ist das vielleicht die größte Mutprobe. Ein paar Jungs haben zugeschaut, Respekt, Mann. Superkrass. Er wuchtet sich hoch, setzt seinen Helm ab. „Oh shit, so war das nicht geplant.“ Schürfwunden an den Armen, an den Knien. David Lebuser hat den Sprung nicht gestanden, aber er hat sich getraut.

Es gibt zwei Arten, Geschichten über Behinderte zu erzählen, auf die Mitleidstour oder im Heldentremolo: Entweder es geht darum, wie sie „gefesselt an den Rollstuhl“ ihr Leben meistern, der Alltag als Wunder. Oder sie mutieren zu Superkrüppeln, die erfolgreich sind trotz ihrer Behinderung. Manchmal ist die Wirklichkeit komplizierter. Lebuser sagt: „Wenn ich heute zurückdenke, möchte ich nicht, dass der Unfall nicht passiert wäre.“

Ein Hochhaus in Lichtenberg, schneematschgrau, 18 Stockwerke mit Fahrstuhl. Lebuser – fast zwei Meter groß, schwarze Hornbrille, Tattoos auf dem Bizeps – sitzt an diesem Abend in seinem Wohnzimmer. Conrad, sein Mitbewohner, fläzt sich auf dem schwarzen Ledersofa; zur Begrüßung streckt er einem die linke Hand entgegen, sein rechter Arm steckt in einer Schiene, er ist taub, seitdem er mit dem Auto gegen einen Baum krachte. „Willkommen in der Invaliden-WG“, sagt Conrad.

Auf dem Flachbildfernseher läuft ein Youtube-Video. Lebuser, wie er fliegt, wie er Treppen herunterspringt, wie er über Rampen fährt. Im Juli 2012 war das, als er an einem trüben Vormittag in Kalifornien zum ersten Mal die Typen traf, die genauso verrückt sind wie er. 14 Wahnsinnige schleuderten damals ihre Rollstühle durch einen der legendärsten Skateparks der Welt, eine hügelige Betonlandschaft, die aussieht wie ein trockengelegter Swimmingpool. Venice Beach, Los Angeles, das Mekka des Körperkultes. Lebuser wurde Fünfter beim Wettbewerb, seitdem sei alles explodiert, sagt er, er habe jetzt Sponsoren, neulich lief eines seiner Videos in einem Kino in Hamburg.

Erster wurde Aaron Fotheringham, er ist so etwas wie der Erfinder des Chairskatings. Es gibt Videos, da fliegt Fotheringham 20 Meter durch die Luft, schlägt mit dem Kopf auf und lächelt dann mit blutiger Lippe und zwei Zähnen weniger in die Kamera. Geboren wurde er mit einem Neuralrohrdefekt, einem offenen Rücken. Mit acht Jahren stürzte er sich das erste Mal einen Abhang herunter, mit 14 war er der Erste, der einen Backflip hinlegte, einen Rückwärtssalto, mit 18 schaffte er den ersten doppelten Backflip. Außer ihm kann das keiner.

Man müsse unterscheiden zwischen denen, die von Geburt an im Rollstuhl sitzen, und Rückenmarksverletzten, sagt Lebuser. „Wenn ich volle Pulle auf den Boden knalle, dann brechen die Schrauben in meinem Rücken.“

Fotheringham tourt durch die Welt; Lebuser darf eigentlich nicht einmal in die Skatehalle in Friedrichshain. Soweit er weiß, ist er der einzige Chairskater in Deutschland. Die Versicherung zahlt nicht, wenn er sich verletzt. „Weißte noch, als du mit gebrochenem Handgelenk gefahren bist?!“ Conrad grinst, er ist blond wie H. P. Baxxter und lacht auch so.

Der Unfall: wie eine Anekdote, die ihm nicht selbst widerfahren ist

Mut zum Risiko. Wenn David Lebuser im Rollstuhl über Rampen brettert oder sich die Halfpipe runterstürzt, gibt er alles. Er ist wahrscheinlich Deutschlands einziger Chairskater und nimmt auch an internationalen Wettbewerben teil.
Mut zum Risiko. Wenn David Lebuser im Rollstuhl über Rampen brettert oder sich die Halfpipe runterstürzt, gibt er alles. Er ist wahrscheinlich Deutschlands einziger Chairskater und nimmt auch an internationalen Wettbewerben teil.

© Björn Kietzmann

Es ist die Vergangenheit, die Lebuser und seinen Mitbewohner verbindet, und die Sprache, beide brandenburgern ordentlich. Lebuser kommt aus Frankfurt an der Oder, Conrad aus einem Kaff bei Eberswalde. Seit dem 15. September 2008 kennen sie sich, an dem Tag wurden beide in die Helios-Klinik Hohenstücken eingeliefert. Zehn Monate Reha.

Warum ausgerechnet ich, ob er sich diese Frage nie gestellt habe? Nö, sagt Lebuser, er wisse ja, warum, „weil ich besoffen war und da runtergeknallt bin“. Er schlägt die Beine übereinander, das geht noch, die Nerven im Rückenmark sind gequetscht, nicht gerissen. Dann erzählt er seine Geschichte, er erzählt sie wie eine Anekdote, die ihm nicht selber widerfahren ist. Als wäre er jetzt ein anderer.

28. August 2008, Lebuser und ein paar Kumpels sitzen im Bandraum, sie hören Punk, sie trinken, einer hat Geburtstag. Lebuser muss dann los. „Es war 23 Uhr 45, das weiß ich ganz genau, und dann weiß ich nichts mehr. Die letzte Erinnerung ist, wie ich aus der Tür raus bin.“ Wie immer rutscht er das Treppengeländer im zweiten Stock herunter. Er strauchelt. Er taumelt. Er fällt. Fällt acht Meter tief, durch den Treppenschacht bis in den Keller. Seine Kumpels finden ihn, wimmernd. Ohnmacht. Alles schwarz. Notoperation. Künstliches Koma.

Als Lebuser aufwacht, liegt er auf der Intensivstation. Am Bett stehen seine Mutter und seine Oma und viele weiße Kittel. Ein Kittel sagt: „Herr Lebuser, Sie sind querschnittsgelähmt.“ 13 Tage vor seinem 22. Geburtstag. Lebuser kann sich nicht von rechts nach links drehen, kann nicht alleine aufs Klo, kann gar nichts mehr. „Das hat mich dermaßen angekotzt.“ Keine Chance, sagen die Ärzte.

Aber dann war da dieses Zucken im linken Oberschenkel. Ein kleines Versprechen. Lebuser wacht morgens auf, spannt den Muskel an, lässt locker, spannt an, immer wieder, den ganzen Tag. Irgendwann zeigt ein Kumpel ihm ein Video von einem durchgedrehten Typen, der einen Rückwärtssalto im Rollstuhl macht. Geht ja mal gar nicht klar, der Kunde, denkt Lebuser und fängt an zu trainieren. Der Kunde heißt Aaron Fotheringham.

Er rollt durch die Krankenhausflure, er fährt Bordsteinkanten hoch und runter, er baut den Kippelschutz an seinem Rollstuhl ab und versteckt ihn, damit die Krankenschwestern ihn nicht finden. Und wenn er rausfällt, klettert er alleine in den Rollstuhl zurück. Drei Monate später fährt Lebuser zum ersten Mal in einen Skatepark, alleine, ohne Helm, ohne Schützer. Er fährt, knallt hin. Ein paar Skateboarder kommen angelaufen: „Hey, alles klar mit dir?“ Ja, alles cool!

Es hört sich komisch an, vielleicht kitschig, aber Lebuser sagt, er habe noch nie so ein selbstbestimmtes Leben geführt. Vor seinem Unfall sei er planlos gewesen, habe Maler und Lackierer gelernt, aber keinen Bock gehabt, dann Strafkolonie Callcenter. Jetzt reist er nach Kalifornien, im Sommer will er wieder hin, er hat zwei Monate in Helsinki gelebt, will auf seinem Handbike einen Halbmarathon fahren. Vali, eine Freundin aus Tel Aviv mit Multipler Sklerose, hat ihm einmal geschrieben: „Für mich sind das keine vier Räder, für mich sind das Flügel.“

Seit Januar wohnt David Lebuser in Dortmund, er hat einen neuen Job. Er verkauft Rollstühle.

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