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Die Sicherheitskräfte gingen sechs Stunden lang gegen eine Drogengang vor.

© Ricardo Moraes/Reuters

Razzia gegen Drogenbanden: Tödlicher Häuserkampf in Rio

Eine Polizeiaktion gegen die Drogenmafia endet in einem der größten Massaker der Geschichte der brasilianischen Metropole – wie konnte es dazu kommen?

Die brutalen Bilder verbreiteten sich in Rio de Janeiro über Twitter, noch ehe die Plattform dazu kam, sie wieder vom Netz zu nehmen. Zu sehen waren die Leichen junger Männer, die halbnackt und völlig verdreht auf dem Asphalt lagen. Einem hatten Kugeln das Gesicht zerfetzt, einem anderen den Bauch aufgerissenen.

Weitere Fotos zeigten Blutlachen, Dutzende Patronenhülsen und tiefe Einschusslöcher in Hauswänden. Besonders häufig geteilt wurde das Bild eines Erschossenen in einem Plastikstuhl, dem Polizisten einen seiner Finger in den Mund gesteckt hatten.

Die Handyfotos waren von Bewohnern der Favela Jacarezinho in Rio de Janeiros armer Nordzone gemacht worden. Dort geschah am Donnerstag bei einer Polizeiaktion eins der größten Massaker in der an Gewalt nicht armen Stadt.

Mindestens 25 Menschen starben durch Kugeln, darunter auch ein Polizist; die genauen Opferzahlen standen auch am Freitag noch nicht fest. Fünf Menschen wurden verletzt, drei Polizisten und zwei Passagiere einer vorbeifahrenden Metro.

Nun tobt in Brasilien erneut eine Debatte über Sinn und Unsinn bewaffneter Polizeieinsätze in den Favelas, bei denen häufig Unschuldige sterben und ganze Stadtteile traumatisiert zurückgelassen werden. Die kriminellen Banden, denen solche Aktionen gelten, gruppieren sich hingegen in der Regel bald wieder neu. Ihnen fehlt es nicht an Drogen, Waffen, Geld und Rekruten aus den Armenvierteln.

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Die Invasion von Jacarezinho startete am Donnerstag um sechs Uhr morgens. Kurioserweise setzte sich die Polizei damit über ein Verbot solcher Operationen in der Pandemie durch Brasiliens Obersten Gerichtshof hinweg. Es ist bislang unklar, welche Konsequenzen das haben wird.

Einsatz mit Helikopter und Schützenpanzer

Unterstützt wurden die rund 200 schwerbewaffneten Beamten am Boden von einem Schützenpanzer sowie einem Helikopter, aus dessen Seitentüren Maschinengewehre staken. Filmaufnahmen zeigen, wie er tief über der Favela mit ihren rund 60.000 Einwohnern kreist, die auf engstem Raum zusammenleben und sich um diese Uhrzeit für gewöhnlich auf dem Weg zur Arbeit befinden.

Die Bewohner der Favela protestieren gegen die Polizeiaktion.
Die Bewohner der Favela protestieren gegen die Polizeiaktion.

© Mauro Pimentel/AFP

Das Ziel der Polizeioperation war die Drogengang Comando Vermelho (CV), Rotes Kommando. Ihr werden neben Drogenhandel zahlreiche Morde, Raubüberfälle, Zugentführungen und die Rekrutierung Jugendlicher vorgeworfen. Die Polizei rechtfertigte die Aktion damit, dass sie Informationen über den Aufenthaltsort von Kriminellen, Waffen und Drogen gehabt habe und handeln musste.

Das richterliche Verbot führe nur dazu, dass das organisierte Verbrechen seine Macht weiter ausbauen könne, sagte der Chef von Rios Zivilpolizei. Tatsächlich hatte das Rote Kommando während der Pandemie Barrikaden und Schützennester errichtet. Aus einem solchen wurde offenbar einem Polizist in den Kopf geschossen.

Die Polizei präsentierte nach der sechsstündigen Aktion mehrere halbautomatische Gewehre aus US-Fabrikation, Dutzende Pistolen, Magazine, schusssichere Westen und Tüten voller Drogen. Sie fand offenbar sogar Handgranaten und einen Sprengkopf.

Einwohner berichten über Exekutionen durch die Sicherheitskräfte

Es ist üblich, dass Rios Polizei bei ihren Aktionen in den Favelas viele Tote hinterlässt. Sie behauptet dann stets, dass es Kriminelle gewesen seien. Selten ist jedoch klar, unter welchen Umständen die Menschen erschossen wurden und welchen Hintergrund sie wirklich hatten.

Häufig deuten Indizien und die Berichte der Favela-Bewohner auf regelrechte Exekutionen hin; nicht selten trifft es offenbar auch Unschuldige. Bewohner von Jacarezinho berichteten, dass Beamte gewaltsam in ihre Häuser eingedrungen seien und ihre Handys beschlagnahmt hätten. Eine Frau erzählte geschockt, dass Polizisten in ihrem Haus den Freund ihrer Tochter erschossen hätten, als er noch im Bett lag.

Gewalt gehört in Rio de Janeiro zum Alltag. Es gibt täglich bewaffnete Raubüberfälle, fast zehn Menschen werden hier pro Tag durchschnittlich ermordet. Man gewöhnt sich, wenn man hier lebt, auch an die Schießereien zwischen konkurrierenden kriminellen Gruppen und der Polizei, die weithin zu hören sind.

Waffen, die während einer Polizeirazzia beschlagnahmt wurden.
Waffen, die während einer Polizeirazzia beschlagnahmt wurden.

© Silvia Izquierdo/AP/dpa

Mit 25 Todesopfern sprengte die Polizeiaktion vom Donnerstag jedoch die üblichen Dimensionen. Nur einmal, im Jahr 2005, wurden mehr Menschen getötet. Damals richtete eine aus Polizisten bestehende Todesschwadron in einem Vorort 29 Menschen hin. Es waren ebenfalls Polizisten, die 1993 in einer Favela aus Rache wahllos 21 Personen ermordeten.

Schwarzenorganisationen sprechen von einem Genozid

Wie immer fordern Menschenrechtsgruppen auch jetzt eine Aufklärung und sprechen von einem Massaker. „Es gibt einen Begriff für das, was geschehen ist“, sagte Pedro Santos Silva vom Zentrum für Studien zur Öffentlichen Sicherheit: „Auslöschung!“ Weil die Getöteten wie häufig fast alle dunkelhäutig sind, beschuldigen Schwarzenorganisationen den Staat einen „Genozid“ anzurichten.

Rechte Kommentatoren, die mit Präsident Jair Bolsonaro sympathisieren, begrüßten hingegen die Aktion. „Es wäre großartig, wenn die Polizei zwei mal täglich solche Operationen durchführen könnte“, sagte der Moderator der beliebten TV-Show „Balanço Geral".

Keine andere Polizei auf der Welt tötet Jahr für Jahr so viele Menschen wie die von Rio de Janeiro. Allein zwischen Juni und diesem März waren es fast 800. Dem Drogenhandel und dem organisierten Verbrechen hat es bisher nicht geschadet.

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