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Zu sehen ist in Arkaim aus der Froschperspektive eher wenig, denn viel Ausgegrabenes wurde wieder zugeschüttet, um es vor dem Verfall zu schützen.

© Nik Afanasjew

Quer durch Russland - 8: Der lange Marsch zum russischen Stonehenge

Arkaim gilt denen, die einen Sinn dafür haben, als magischer Ort der Kraft. Diese Kraft nutzt der Ort manchmal, um jene fernzuhalten, die nicht an ihn glauben. Also ganz in echt.

Unser Autor Nik Afanasjew reist zwei Monate lang quer durch Russland, um zwei schwere Fragen zu beantworten: "Wie ticken die Russen? Und warum sind sie so?"

Das mit den magischen Orten ist ja so eine Sache. Es gehört Glaube dazu. Der Mensch muss sich darauf einlassen. Sonst lässt der Ort den Menschen gar nicht erst zu sich – oder nicht wieder weg.

Am Sonntagmorgen brachen mein Cousin A. und ich von Tscheljabinsk nach Arkaim auf. Diese archäologische Stätte in der Steppe wird auch als „Russisches Stonehenge“ bezeichnet. Für viele Menschen ist Arkaim ein Ort der Kraft, von dem eine besondere Energie ausgeht. Seit gut 25 Jahren erlebt nicht nur die orthodoxe Kirche in Russland eine Wiedergeburt, die Russen entdecken auch alternative Suchprozesse nach dem Sinn des großen Ganzen für sich. Zur Sommersonnenwende pilgern gar Zehntausende nach Arkaim, um sich spirituell aufzuladen.

Der Glaube an mystische Orte  ist weder bei meinem Cousin noch bei mir besonders ausgeprägt. Auf einer Skala von 0 bis 10 würde ich mich eher im unteren Drittel sehen. Cousin A. schätzt sich selbst „so etwa ziemlich genau bei 0 ein“.

Wir machten am Sonntagmorgen schon stark verspätet los. Unser Chevrolet Cruise fuhr mit Gas, das in Russland sowohl in unterirdischem Speichergestein als auch an Tankstellen sehr verbreitet ist. Sofort die erste Tanke, betrieben von Lukoil, warb mit einem großen „GAS“-Schild. Wir fuhren von der Stadtautobahn ab und an die Zapfsäule heran. Allerdings war dort niemand. Ich ging zum Häuschen, auf dessen Tür „geöffnet“ stand. Aber geöffnet war dort nichts. Stattdessen war unter dem „geöffnet“-Schild ein zweites, das sagte: „Technische Pause.“ Wir fuhren weiter.

Cousin A. fluchte dann, wir fuhren weiter

Einige Kilometer später kam die nächste Tankstelle. Auch hier laut Preistafel: Gas. Wir fuhren ab und standen etwa zehn Minuten in einer Schlange, weil es nur eine enge Zufahrt gab, durch die sich alle quetschen mussten. Als wir an den Benzin-Zapfsäulen vorbei endlich zum Gas vordrangen, standen wir einige Augenblicke wortlos vor dem „defekt“-Schild. Cousin A. fluchte dann, wir fuhren weiter.

Die nächsten Tankstellen führten nur Benzin. Wir hatten Tscheljabinsk mittlerweile verlassen und verlassen würde auch das Auto bald sein, von jeglichem Gas, wenn wir nicht bald welches finden würden. Ich scherzte, das Gas in Russland doch leicht zu finden sein müsste. Cousin A. lächelte gequält.

Endlich, Gazprom! Noch nie war ich so froh, das Label dieser Firma zu sehen. Und ja, die Preistafel  am Straßenrand versprach Gas. Wir fuhren ab, suchten ratlos die passende Säule, fragten dann einen Mitarbeiter. Der sagte: „Gas gibt’s einige Kilometer weiter. Wir wollten keine zwei Preissäulen bauen, deshalb steht der Gas-Preis da mit dran.“ Cousin A. fluchte, nun schon ungeniert genervt.

Immerhin, die Gas-Tanke einige Kilometer weiter gab es wirklich, auch betrieben von Gazprom und sogar geöffnet. Ein Mitarbeiter kam, ein älterer Mann mit Mütze. „Gas? Klar, kein Problem“, sagte er. Ein Lächeln huschte über unsere Gesichter. „Wenn Sie mir noch kurz das technische Begleitheft für ihren Gastank zeigen?“ Cousin A. setzte seine Sonnenbrille ab. „Das technische... was??? Ich habe keine Ahnung, was das ist. ...piep... Ihr wollt mich doch alle verarschen! Das ist doch eine ...piep... Ich habe sowas nicht!“ Der Mann lächelte freundlich. „ Ohne Begleitheft kann ich sie nicht betanken. Das ist gesetzlich so, seit Freitag machen wir...“ Jetzt schaltete ich mich ein, weil ich es nicht glauben konnte. „Also Sie wollen uns erzählen, dass seit Freitag ein neues Gesetz gilt, nachdem ohne dieses Begleitheft niemand Gas tanken darf? Seit diesem Freitag, so ganz spontan?“ Der Mann lächelte weiter. „Nun. Nicht ganz. Das Gesetz gibt es schon lange, aber am Freitag kam der Anruf aus der Zentrale, dass wir uns ab jetzt auch daran halten.“ Cousin A. fluchte jetzt recht ausführlich, es würde zu viele ...piep... erfordern, das wiederzugeben. Der Mann mit der Mütze lächelte auch nicht mehr. Wir wollten schon fahren, da kam er zu mir ans Fenster. „Ich kenne eine Tanke in der Nähe, wo die alle befüllen, auch ohne Papiere.“ Er erklärte uns den Weg und wir fuhren weiter.

Es kam dann eine Frau aus dem Büdchen

Wo die alle befüllen, auch ohne Papiere... es war ja nicht so, dass wir Klatschmohn oder angereichertes Plutonium erwerben wollten. Die Zeit lief uns davon. Mir war auch schon sehr nach Fluchen. Aber ich überließ das Cousin A. Er kann das einfach besser.

Der Weg, den uns der Mann beschrieben hatte, führte von der Fernstraße ab und über eine Schlaglochpiste. Wir erreichten auf der Suche nach Gas einen Flecken Russlands, an dem sich jegliche Modernisierung erfolgreich vorbeigeschlichen hatte. Die Tankstelle bestand aus einem Büdchen und einem Gasbehälter in den Ausmaßen einer Badewanne. Unweit rostete das Gerippe eines Lastwagens vor sich hin und tat das vermutlich schon sehr lange. Es war heiß. Ein Hund irrte müde umher. Ich dachte daran, wie es sein konnte, dass wir ausgerechnet auf dem Weg zu einem Ort der Kraft in diesen seltsamen Film hineingeraten waren. „Das sind die Geister von Arkaim“, sagte ich. Cousin A. sagte: ...piep...

Es kam dann eine Frau aus dem Büdchen. Sie betankte uns mit Gas. Tatsächlich. Wir konnten fahren.

Der Weg dauert mehr als fünf Stunden, also fast zu viel Zeit, um darüber nachzudenken, ob dieser filmische Morgen irgendwie mit dem Reiseziel zusammenhing. Oder damit, dass mein Cousin das Auto von einem Freund geliehen hatte und daher nichts von irgendwelchen Begleitheften wusste. Nun gut, irgendwann kamen wir an.

Arkaim selbst, also die historische Siedlung, bestand aus zwei spiralförmigen Hausreihen mit einem großen Platz in der Mitte. Die Bewohner waren für ihre Zeit technisch besonders fortschrittlich, die Mauern ihrer Häuser besonders dick, in die Nähe wurde der älteste Streitwagen der Menschheitsgeschichte gefunden, kurzum: es gab wohl etwas zu beschützen. Eine ZDF-Doku kam vor Jahren zu dem Schluss, dass die Bewohner in der Bronzezeit, vor etwa 2000 Jahren, wohl reiche Edelsteinvorkommen aus Gegend ausgebeutet hatten und sichern wollten. Sicher ist das nicht. Trotzdem ist der Andrang groß. Sowohl Medwedew als auch Putin besuchten die Stätte bereits.

Zu sehen ist in Arkaim aus der Froschperspektive eher wenig, denn viel Ausgegrabenes wurde wieder zugeschüttet, um es vor dem Verfall zu schützen. Optisch am imposantesten sind die acht sakralen Berge, von denen zwei unmittelbar in der Nähe der Ausgrabungsstätte liegen. Cousin A. und ich lassen und von Vika auf die „Schamanka“ führen, den Berg der Schamanen. Vika ist 42, aus Jekaterinburg, und seit sechs Jahren ein Arkaim-Afficionado. Sie kommt oft her, führt Besucher herum, sie ist einer der Menschen, die diesen Ort leben. „Es ist besser, hier den Kopf zu Hause zu lassen und auf sein Herz zu hören“, sagt sie uns. Vika trägt eine weite Bluse, einen noch weiteren Rock und läuft sichtbar mühelos den Berg hinauf, der eher ein Hügel ist, und Cousin A. und mich trotzdem schwitzen lässt.

„Früher waren die Menschen nicht reif für Arkaim.“

„Ich habe etwas gesucht – und das hier gefunden“, erklärt Vika. „Früher waren die Menschen nicht reif für Arkaim.“ Eigentlich sei die Stätte dreimal „entdeckt“ worden. Beim ersten Mal sei die archäologische Bedeutung nicht erkannt worden, beim zweiten Mal seien die Abdrücke der bronzezeitlichen Strukturen im Boden für militärische Strukturen gehalten worden und es war in der Sowjetunion keine gute Zeit, etwas zu entdecken, das möglicherweise nicht entdeckt werden sollte. Erst als die Gegend 1987, da war schon Perestroika, geflutete werden sollte – ein Stausee war geplant – verstanden Wissenschaftler, was sie da vor sich hatten.

Wir kamen oben an und sahen das weite Land. Einige Menschen liefen dort im Kreis um den Gipfel, andere bauten Steinformationen, in denen sie symbolisch Wünsche versteckten. Cousin A. blickte sich um, nickte kurz und sagte: „Ich gehe mich mal energetisch aufladen.“ Ich fragte: „Was?“ Er sagte: „Ich gehen schlafen.“ Weder der Ausblick vom Berg noch die lange Suche nach Gas hatten seinen Stufe-0-Glauben anheben können. „Unter uns ist im Boden viel Quarz. Er speichert die Energie und gibt sie nach und nach ab“, sagte Vika. Sie sprach ruhig und beseelt. Ich fragte nicht viel nach.

Sie erzählte mir eine Parabel. Ein Meister sagte seinem Schüler, er soll jedes Mal, wenn er wütend auf jemanden ist, eine Kartoffel in seinen Rucksack legen. Der Schüler tat, wie geheißen. Nach einer Weile war der Rucksack schwer, die Kartoffeln faulten und stanken. „Ich habe verstanden“, sagte der Schüler dann, „ich will diesen Ballast nicht mit mir herumtragen.“ Es sei wichtig, seinen persönlichen Rucksack loszuwerden. Während Vika das erzählte, gingen wir von der Schamaka herunter und erklommen den „Berg der Liebe“. Vika sagte: „Wer reinen Herzens fragt, wird hier Liebe finden.“ Vika sagte das in diesem bestimmten Ton von etwas wirklich überzeugter Menschen, denen jeder gerne zuhört, selbst wenn er nicht so überzeugt ist.

Während wir den steilen Aufstieg hinter uns brachten, kam mir meine eigene Theorie, warum viele Arkaim so verfallen sind. Diese malerischen grünen Hügel sind das Gegenteil der Lebensrealität in manchen russischen Städten. Die nächste Großstadt ist Magnitogorsk. Dort wird ein Fünftel des russischen Stahls hergestellt, 60.000 Menschen arbeiten in einer Produktionsstätte, die sich scheinbar endlos zieht, Hallen, Rohre, Zufahrten, mehr Industrierohre, Hallen, Abgase, graue Wolken. Die Stadt ist flach, die Luft voller Blei. Wer danach beim Aufstieg auf der Berg der Liebe vom Wind erfrischt wird, glaubt schneller an die positive Energien eines Ortes wie Arkaim.

Oben erzählte Vika mir einiges mehr, ich schwieg, sie kam auf einen wichtigen Punkt zu sprechen. „Es passiert oft, dass Menschen, die sich daneben benehmen, hier Pflanzen beschädigen oder Steine mitnehmen, vom Ort bestraft werden. Dann bleibt ihr Auto liegen. Oder sie wollen los, aber etwas hindert sie.“ Ich konnte natürlich nicht anders, als an die morgendliche Odyssee zu denken, an diese Tscheljabinsk-Tankstellen-Tour. Ich erzählte es Vika. Sie war nicht überrascht, sprang aber auch nicht wild auf diese Geschichte ein. Sie schmunzelte nur und sagte: „Ja. Das passiert.“

Als hätte der filmische Morgen nicht gereicht, hatte auch der Abend dieses Tages noch etwas parat, eine Art Epilog. Irgendwann hatte ich mich von Vika verabschiedet, war an den Souvenirständen vorbeigeschlendert, hatte ordnungsgemäß heilige Steine erworben und Cousin A. geweckt. Wir brachen auf. Nach zehn Minuten bemerkte A., dass er seine Tasche in Arkaim vergessen hatte. „Der Ort lässt dich nicht gehen, weil du so gar nicht an ihn glaubst“, sagte ich ihm. Irgendeine positive Energie musste Arkaim aber sogar für Ungläubige haben, denn Cousin A. fluchte daraufhin überhaupt nicht, sondern grinste nur.

Teil 0 – vor der Abreise – lesen Sie hier.

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/von-moskau-bis-fernost-wie-ticken-die-russen/13837124.html

Teil 1 – Die Krim, das neue Staatsgebiet – lesen Sie hier.

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/von-moskau-nach-fernost-die-krim-das-neue-staatsgebiet/13844962-all.html

Teil 2 – Der melancholische Verteidigungsminister der Hooligans – lesen Sie hier.

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/von-moskau-nach-fernost-der-melancholische-verteidigungsminister-der-hooligans/13852744.html

Teil 3 – Alle Wege führen nach Moskau – lesen Sie hier.

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/von-moskau-nach-fernost-alle-wege-fuehren-nach-moskau/13860432.html

Teil 4 – In Kasan ist es wie in der Schweiz – lesen Sie hier.

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/von-moskau-nach-fernost-die-tatarische-schweiz/13871258.html

Teil 5 – Seit einig und streitet euch! – lesen Sie hier.

http://www.tagesspiegel.de/politik/von-moskau-nach-fernost-es-gibt-nur-eine-partei-und-die-heisst-russland/13871396.html

Teil 6 – Stalin ist wieder da – lesen Sie hier.

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/quer-durch-russland-stalin-ist-wieder-da-in-der-provinz/13886320.html

Teil 7 – Ein Zwischenfazit, verflucht nochmal – lesen Sie hier.

http://www.tagesspiegel.de/politik/quer-durch-russland-7-schade-europa-dass-ihr-so-untergeht/13897372.html

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