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Im ersten Lockdown im Frühjahr sind deutlich weniger Kinder und Jugendliche in Bayern in einem Krankenhaus behandelt worden als üblich - stationäre Einweisungen wegen Depressionen und Angststörungen hingegen nahmen zu.

© Nicolas Armer/dpa

Psychische Gesundheit in der Pandemie: Mehr Jugendliche äußern Suizidgedanken

Der Lockdown beschwert die gesamte Bevölkerung, auch psychisch. Vorbelastete Kinder und Jugendliche aber trifft es besonders hart. 

Die Corona-Pandemie trifft diejenigen besonders hart, die es ohnehin schon schwer haben – das gilt gerade für Jugendliche und ihre psychische Gesundheit. „Nicht alle Kinder reagieren auf die derzeitigen Belastungen mit psychischen Erkrankungen“, sagt Michael Kölch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. „Was man aber allgemein sagen kann: Die Schere geht auseinander.“

Kölch ist auch Direktor an der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter an der Universitätsklinik in Rostock. Im letzten Quartal 2020 suchten dort vermehrt Jugendliche Hilfe. „Kinder, die vorher schon belastet waren, können jetzt entweder ein klinisch relevantes Störungsbild entwickeln oder die bestehende Erkrankung verschlimmert sich“, sagt Kölch.

Die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Beate Beyer aus Halle (Saale) beobachtete in ihrer Praxis seit Monaten nicht nur mehr hilfesuchende Jugendliche – sie musste sich bei ihnen auch überdurchschnittlich häufig mit Selbstmordgedanken auseinandersetzen. „Suizidale Gedanken gehören bei psychisch erkrankten Jugendlichen zwar oft zum Störungsbild“, sagt sie.

Allerdings sei die Schwere der Gedanken schlimmer geworden. Fünf Jugendliche verwies Beyer bereits an Kinder- und Jugendpsychiatrien sowie psychosomatische Stationen in der Gegend. Dort betragen die Wartezeiten mittlerweile bis zu sechs Monate. Coronabedingt waren dort Kapazitäten beschränkt, so dass die verstärkte Nachfrage zu einem Patientenrückstau führte.

Mehr Angst in ressourcenschwachen Familien

Die sich öffnende Schere zwischen ressourcenstarken und -schwachen Familien erlebt auch die Therapeutin: „Ich beobachte, dass gerade Kinder aus vorbelasteten Elternhäusern akribisch dazu angehalten werden, sich mit niemandem zu treffen.“ Außerdem sei es momentan besonders schwer für die Altersgruppe der 12- bis 15-Jährigen, weil man sich in diesem Alter nicht einfach zum Spazierengehen verabrede, sondern eher bei den Freund:innen zu Hause.

Viele Jugendliche verlegten die Kommunikation auf Computerspiele und Chats. „Meine Sorge ist, dass sich hier Normalitätsvorstellungen von sozialem Miteinander langfristig verschieben und Jugendliche den direkten sozialen Umgang verlernen“, so Beyer. Es gehe hier um einen wichtigen Ablösungsprozess von den Eltern, der entscheidend für die Entwicklung der Jugendlichen sei. Dieser werde durch die Pandemie empfindlich eingeschränkt.

Vor allem Schüler:innen, die vor dem Lockdown bereits unter Mobbing oder sozialen Ängsten litten, gehe es jetzt häufig besser, denn sie müssten sich nicht täglich mit den Auslösern ihrer Ängste konfrontieren. Genau das könne aber auch kontraproduktiv sein: Denn durch die Abkapslung könnten Patient:innen in die sogenannte Vermeidung gehen, die Ängste könnten nach dem Lockdown dann umso stärker zurückkommen.

„Teilweise waren diese Jugendlichen jetzt ein Dreivierteljahr lang nicht in der Schule, auch weil es so einfach war, sich krankschreiben zu lassen“, so Beyer. Die Hürde, dann wieder hinzugehen, werde umso höher sein. In ihrer Praxis hätten Therapien unterbrochen werden müssen, weil schulängstliche Kinder und Jugendliche derzeit nicht mit ihren Ängsten konfrontiert seien – was aber gleichzeitig Rückzug und Stagnation bedeute.

Ambulante Hilfsmaßnahmen oft eingeschränkt

Michael Kölch beobachtet in seiner Klinik vor allem, dass bereits zuvor behandelte Jugendliche wieder vorstellig werden, weil ihre ambulanten Maßnahmen auch coronabedingt nicht durchgeführt werden konnten – etwa weil die Schulsozialarbeit nur eingeschränkt verfügbar ist. Dabei sei das aktuell besonders wichtig. „Familien sollten Stressfaktoren identifizieren und minimieren sowie über Probleme offen reden”, so sein Appell.

Ab einem gewissen Punkt sei es auch nötig, Hilfe von außen zu holen, etwa bei der Jugendhilfe, dem oder der Schulsozialarbeiter:in oder auch in einer kinder- und jugendpsychiatrischen oder psychotherapeutischen Praxis. „Oftmals reicht die Beratung aus, um eine belastende Situation zu verbessern“, sagt Kölch.

Die akute Verschlechterung der psychischen Gesundheit ihrer Patient:innen erklärt Therapeutin Beyer mit der Abwesenheit von Tagesstrukturen und positiven Reizen. Zudem könnten in den Familien Beengtheit und Konflikte für Druck sorgen und letztendlich zum Rückzug führen. „Wir sehen zwei sich gegenseitig verstärkende Mechanismen", sagt dazu Michael Kölch. „Einerseits kann durch Homeschooling und die beengte Situation in der Familie Überforderung entstehen; gleichzeitig sind positive Verstärker wie soziale Kontakte oder Unternehmungen nicht möglich.“ 

Vermehrte Gefühle von Angst und Einsamkeit

Die Wissenschaft bestätigt die Beobachtungen des Psychiaters und der Psychotherapeutin: In der JuCo-II-Studie zum Wohlbefinden und den Zukunftsaussichten von Jugendlichen in der Pandemie gab ein Drittel der Befragten an, sich einsam zu fühlen. Die Daten stammen aus einer Befragung im November, bilden also die Stimmung deutscher Jugendlicher und junger Erwachsener im zweiten „harten“ Lockdown ab.

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Knapp 60 Prozent der Befragten fühlten sich von Politiker:innen nicht wahrgenommen, ein Fünftel hatte Angst vor der Zukunft. Die Studienautor:innen schlussfolgern: „Das Wegfallen von sozialen Räumen mit den Peers verändert den Jugendalltag grundlegend. Es nimmt den jungen Menschen auch alltägliche Bewältigungsmöglichkeiten, die für den psycho-sozialen Ausgleich in dieser Lebensphase zentral sind.“

Die Bundespsychotherapeutenkammer nennt Kinder und Jugendliche in ihrem Kompendium zur Forschung zu den psychischen Folgen von Pandemiesituationen eine besonders verletzliche Gruppe. So zeigte eine Studie, dass nach dem Ausbruch der Schweinegrippe im Frühjahr 2009 amerikanische Kinder, die sich in Quarantäne oder Isolation befunden hatten, etwa fünfmal so häufig auf professionelle psychologische Unterstützungsangebote angewiesen waren.

Umgang der Schulen und Eltern ist entscheidend

Weder Kölch noch Beyer wollen Prognosen zu den Folgen der Coronakrise wagen. Eine psychisch kranke Generation erwarte er nicht, sagt Kölch. Denn die Gefahr von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen hänge stark von Umweltfaktoren ab – und die seien beeinflussbar. „Wenn sie eingebunden und gefördert werden, werden die meisten Kinder und Jugendlichen die Pandemie auch langfristig gut überstehen“, sagt Kölch.

Man solle in Zukunft aber genauer hinschauen, belastete Kinder und Jugendliche identifizieren und ihnen helfen. Beate Beyer nimmt auch die Eltern in die Verantwortung: Wird zuhause viel über Corona und eigene Ängste der Eltern gesprochen? Haben Eltern ein offenes Ohr für ihre Kinder? Das seien entscheidende Fragen. „Spannend wird auch, zu sehen, wie der Schulbetrieb wieder anläuft”, so Beyer. „Ich erlebe, dass viele meiner Patient:innen von zwei Tagen Präsenzunterricht total erschöpft sind und sich an den restlichen Wochentagen davon erholen müssen.”

Haben Sie oder hast Du dunkle Gedanken? Wenn es Ihnen oder Dir nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie oder Du sich melden können.

Der Berliner Krisendienst ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern variieren nach Bezirk, die richtige Durchwahl für Ihren Bezirk finden Sie hier.

Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen finden Sie unter: www.telefonseelsorge.de

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