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In Quarantäne: Medizinisches Personal bringt einen Patienten in ein Krankenhaus im chinesischen Wuhan.

© AFP

Neues Virus in China: Coronavirus von Mensch zu Mensch übergesprungen

Der Ausbruch einer Lungenkrankheit in China sorgt für alte Reflexe. Der Staat beschönigt, die Bürger sind hochgradig misstrauisch.

Es ist eine seltsame Mischung aus Sorge und Ignoranz, die Robert Fang in diesen Tagen in Peking wahrnimmt. In Chinas Hauptstadt mache sich zwar ein ungutes Gefühl breit wegen dieser neuen Lungenkrankheit, die vor einigen Wochen im Land ausgebrochen ist. Ein brennendes Gesprächsthema sei eine mögliche Epidemie deswegen aber noch nicht, berichtet der Mann Anfang 40.

Nicht einmal die geschwätzigen Taxifahrer der Stadt würden das Thema anfassen. Sowieso wisse niemand etwas Genaues. „Die Menschen haben hier vor allem deswegen keine Angst, weil sie nicht wissen, wie ernst die Lage ist. Der Blinde fürchtet die Dunkelheit nicht“, sagt Fang.

Er selbst, so gibt er zu, mache sich insgeheim aber große Sorgen. Und er glaubt, das gelte auch für viele seiner Mitbürger. „Die Öffentlichkeit traut offiziellen Zahlen nicht besonders, weil die immer geschönt sind“, sagt Fang, der mit dieser Behauptung einen in China weitverbreiteten Vorwurf vertritt.

Er fühlt sich auch erinnert an das Jahr 2003, als die Lungenkrankheit Sars in China ausbrach, damals wie heute ein Corona-Virus. Lange Zeit verschleierten die Behörden damals das wahre Ausmaß der Infektion. Mehrere Hundert Menschen starben. Diese Handhabe hat bis heute deutliches Misstrauen hinterlassen, und die Glaubwürdigkeit von chinesischen Verlautbarungen im Zusammenhang mit der neuen gesundheitlichen Bedrohung stärkt das nicht.

Rund 220 Krankheitsfälle bestätigt

Inzwischen kann die neuartige Lungenkrankheit auch von Mensch zu Mensch übertragen werden. Zudem seien Infektionen bei medizinischem Personal bestätigt, teilte ein Expertenteam der chinesischen Gesundheitskommission am Montag nach Angaben der Nachrichtenagentur Xinhua mit. Für zwei Fälle in der Provinz Guangdong sei eine Übertragung von Mensch zu Mensch nachgewiesen, sagte der Chef des Teams, Zhong Nanshan.

Auch wenn ausländische Experten den Chinesen bescheinigen, dass sie heute schneller und konsequenter reagierten, als es damals bei Sars der Fall war, untermauerten neue Zahlen von ausländischen Forschern die These von den alten Verschleierungsreflexen des Ein-Parteien-Systems. Experten am britischen Zentrum für die Analyse globaler Infektionskrankheiten am Imperial College London bezifferten die Zahl der wahrscheinlichen Infektionen auf über 1700.

Als Referenz für ihre Berechnungen bedienten sie sich dafür bei der Anzahl der entdeckten Infektionen außerhalb Chinas. Offiziell waren am Sonntag von chinesischer Seite erst 60 Fälle bestätigt worden. Nach dem Bericht aus England erhöhte sich die Zahl dann schnell auf mehr als 200. Drei Patienten seien verstorben, heißt es. Am Montagabend war bereits von 220 Krankheitsfällen die Rede.

Wer in Peking und dem Rest des Landes von den Berechnungen aus London erfahren wollte, musste sich auf englischsprachigen Nachrichtenportalen informieren. In den nationalen Medien spielte die Zahl keine Rolle. Und das ist kein Zufall. Chinesische Medien handeln nach einem strikten Leitfaden der Partei, wie prominent das Thema behandelt werden darf.

Das Leitmotiv: Ein grassierender Corona-Virus hat auf Titelseiten nichts verloren, und eigene Recherchen von Zeitungs- oder TV-Redaktionen zu dem Thema sind unerwünscht, genauso wie ausländische Expertenmeinungen. Nur wenn die Ausländer der chinesischen Regierung gute Arbeit bescheinigen, wird ihren Aussagen Platz und Relevanz eingeräumt.

Strenge Zurückhaltung chinesischer Medien

Das Resultat ist eine strenge Zurückhaltung der chinesischen Medien, und das Thema wird dadurch in den Hintergrund gedrängt. Auch Diskussionen in sozialen Medien werden von den Behörden unterdrückt. Am Montag kursierte dennoch ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2013 durch das Internet. Der Text aus dem Magazin Südliches Wochenende (Nanfang Zhoumo) erinnerte an einen Arzt, der zu Zeiten des Sars-Ausbruchs die staatlichen Zahlen öffentlich anzweifelte und schließlich Recht behielt.

„Fast jeder meiner Kontakte hat heute diesen Text verbreitet, weil die Leute an die Parallelen von damals und heute erinnern wollen“, sagt Robert Fang. Dahinter vermutet er ein weit verbreitetes Misstrauen der Menschen in die eigene Regierung. „Es können viele Lügen über die aktuelle Situation verbreitet sein.“

Die beliebige Gestaltung von Zahlen und Statistiken gilt in China als offenes Geheimnis. Hohe Vertreter von Staat und Partei haben in den vergangenen Jahren mehr oder minder unverblümt zugegeben, dass beispielsweise die Wirtschaftsdaten des Landes geschönt werden. Besonders in Krisenzeiten glauben die Chinesen ihren Medien deswegen so gut wie gar nichts.

Dennoch geht die staatliche Taktik auf, weil sie mit Falschbehauptungen die Emotionen ihrer Bürger kontrollieren. Und Kontrolle ist die Basis der allein regierenden Kommunistischen Partei für ihre autoritäre Staatsführung.

Schließlich steckt sie in einem Dilemma, von dem Diktaturen immer betroffen sind. Wenn eine Krise ausbricht, die eine Gefahr für die Bevölkerung bedeutet, sowohl gesundheitlich, aber auch wirtschaftlich, dann sind die politisch Verantwortlichen nun einmal schnell ausgemacht.

In einem Staat, in dem eine einzige Partei alle Macht für sich beansprucht, erwarten die Bürger, dass diese Partei ihren Anspruch auch rechtfertigt, indem sie sich in der Lage zeigt, Krisen jeglicher Art zu bewältigen. Wenn die Menschen im Land das Gefühl haben, dass ihnen die Sicherheit verwehrt bleibt, könnten sie auf die Idee kommen, ihren Unmut gemeinsam mit anderen auf die Straße zu tragen und Unruhen auszulösen – das Horrorszenario schlechthin für Autokraten.  

Marcel Grzanna

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