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Schattenriss Kind und große Erwachsenenhände

© dpa

Neuer Missbrauchsskandal in Großbritannien: Mindestens 1400 Kinder in nordenglischer Provinz missbraucht

Die Professorin Alexis Jay hat einen verheerenden Bericht über die Zustände in der nordenglischen Region Rotherham vorgelegt. Es war der dritte. Polizei und Sozialbehörden haben beim Schutz von Kindern vollkommen versagt, schreibt Jay.

Kindesmissbrauch scheint in Großbritannien ein allgegenwärtiges Verbrechen zu sein. Der Skandal um den verstorbenen Entertainer Jimmy Saville, beim britischen Staatssender BBC ein nationaler Star, hat einen Einblick in das Problem gegeben. Leichenschändung in staatlichen Krankenhäusern des Gesundheitssystems NHS, Affären mit Jugendlichen unter Parlamentariern in Westminster, systematischer Missbrauch in Kinderheimen in Wales, Hunderte geschändete Heimkinder in Nordirland, der Vatikan ermittelt in Schottland gegen einen Kardinal. Die Reihung ließe sich weiter fortsetzen. Der Bericht, den die britische Professorin Alexis Jay nun über den fortgesetzten Missbrauch von mindestens 1400 Kindern in Rotherham im Norden Englands vorgelegt hat, deckt das komplette Versagen von Polizei und örtlichen Sozialbehörden über mehr als ein Jahrzehnt auf.

Am Mittwoch hat der früher für Kinderschutz zuständige Polizeichef der Region um Entschuldigung gebeten. „Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, dann hätte eindeutig mehr getan werden können“, sagte Shaun Wright dem Sender Sky News. Wright war im Stadtrat von 2005 bis 2010 für Kinderschutz zuständig. Nachdem am Dienstag das Ausmaß der sexuellen Ausbeutung in der etwa 20 Kilometer von Sheffield entfernten Stadt bekannt geworden war, hatten mehrere Stadträte und die Labour-Partei seinen Rücktritt gefordert.

„Ich kann nur sagen, dass das für die Polizei in South Yorkshire höchste Priorität hat“, sagte der Polizeichef. Das werde auch so bleiben, so lange er den Posten innehabe. Sein Amt niederzulegen, lehnte er ab. Der Vorsitzende des Stadtrats von Rotherham, Roger Stone, war bereits am Dienstag zurückgetreten. Ein Regierungssprecher in London nannte das Versagen der lokalen Behörden „erschreckend“.

"Gruppenvergewaltigung gehört zum Aufwachsen dazu"

Alexis Jay hat ermittelt, dass zwischen 1997 und 2013 mindestens 1400 Kinder in Rotherham Sexualstraftätern zum Opfer gefallen sind. Die Täter haben die Mädchen und Jungen demnach vergewaltigt, geschlagen und eingeschüchtert. Die Kinder wurden zur Prostitution gezwungen und in andere Städte verschleppt. Ein Opfer wird in Jays Bericht mit den Worten zitiert: "Gruppenvergewaltigung gehörte zum Aufwachsen in Rotherham dazu." 2010 waren fünf Männer pakistanischer Herkunft wegen Kindesmissbrauch verurteilt worden. Die meisten beschriebenen Täter sollen pakistanischer Herkunft sein, die meisten Opfer waren weiß. Jay hat für ihre Untersuchung allerdings auch mit pakistanischen Frauengruppen gesprochen und dort erfahren, dass es auch eine relevante Gruppe von Mädchen pakistanischer Herkunft geben muss, die ebenfalls Opfer der Pädophilenringe geworden sind. Über diese Mädchen gibt es in den Akten der Sozialbehörden und der Polizei aber keine Hinweise, weil es für diese Mädchen gänzlich unmöglich gewesen sei, bei der weißen, britischen Polizei Hilfe zu suchen, stellt Jay in ihrem Bericht fest.

Eine Stadt im wirtschaftlichen Niedergang

Rotherham ist eine Stadt, die stellvertretend für den Niedergang der nordenglischen Industriekultur stehen könnte. Rote Bergarbeiter-Häuschen und Schlote auf Fabrikbrachen zeugen davon, dass wirtschaftliche Blüte hier eher Geschichte ist. Einst als Stadt von Kohle und Stahl berühmt, ist Rotherham jetzt wieder in den Schlagzeilen: Als Synonym für einen fast unglaublichen Skandal um den Missbrauch und die sexuelle Ausbeutung junger Mädchen.

„Rotherham ist keinesfalls ein Einzelfall“, sagt der Chef der Selbsthilfeorganisation National Association for People Abused in Childhood, Peter Saunders. Im Zwölf-Monatszeitraum 2011/2012 wurden in Großbritannien einem Bericht der Schutzorganistation NSPCC (National Society for the Prevention against Cruelty to Children) zufolge 29 305 Kinder Opfer von Missbrauch. In bevölkerungsreicheren Deutschland lag die Zahl nach Angaben des Bundeskriminalamts mit 14 877 bei der Hälfte. Allerdings sind die beiden Statistiken schwer vergleichbar. Außerdem gilt die NSPCC nicht als unproblematische Quelle. Sir Peter Wanless vom NSPCC ist von der Innenministerin Theresa May beauftragt worden, das "Verschwinden" von 114 Akten im Zusammenhang mit dem Westminster-Missbrauchsskandal zu untersuchen. Doch Wanless war auch schon in verantwortlicher Position beim NSPCC, als Jimmy Saville noch der wichtigste Spendensammler für die Organisation war.

Die Opfer waren dem Jugendamt oft bekannt

Alarmierend sind die Zahlen dennoch. „Die meisten Kinder, die Opfer von Gewalt oder Vernachlässigung werden, sind den Behörden gar nicht bekannt“, heißt es in dem Bericht. In Rotherham und nicht nur dort war das Problem seit Jahren bekannt. Eine Bande von Männern mit pakistanischen Wurzeln hat junge Mädchen, meist aus sozialschwachen Verhältnissen, als Prostituierte missbraucht. Elfjährige Kinder wurden mit Schnaps und billigen Geschenken gefügig gemacht, Betrunkene Erwachsene fielen dann über sie her. Wenn die Köder nicht reichten, gebrauchten die Täter Gewalt.

Erst seit vier Jahren gibt es bei der Polizei in Rotherham eine Sondereinheit, die sexuellen Missbrauch verfolgt.
Erst seit vier Jahren gibt es bei der Polizei in Rotherham eine Sondereinheit, die sexuellen Missbrauch verfolgt.

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Alexis Jay berichtet von einem Mädchen, mit Benzin überschüttet wurde mit der Drohung, sie anzuzünden, sollte sie sich wehren. Andere mussten brutalen Vergewaltigungen zusehen und wurden mit der Drohung, sie seien die nächsten zum Schweigen gebracht. In zurückliegenden Gerichtsverfahren in Städten wie Derby oder Oxford wurden ähnliche Fälle bekannt.

"Die Täter waren unantastbar"

In Rotherham griff das Jugendamt kaum ein. Sozialarbeiter behaupteten, sie hätten Angst gehabt, als rassistisch zu gelten, wenn sie die gegen die nach außen unbescholtenen Familienväter mit pakistanischen Wurzeln vorgegangen wären. Jay hat aber in der pakistanischen Gemeinde erfahren, dass es nie Kontakte von Polizei oder Gemeinderat mit ihnen gegeben habe, um das Problem zu lösen. Mädchen, die sich an die Polizei oder das Jugendamt gewandt hatten, wurden von den Tätern massiv unter Druck gesetzt, schreibt Jay. Familien seien terrorisiert worden, mit der Entführung jüngerer Schwestern gedroht worden und am Ende seien viele der Kinder zu ihren Peinigern zurückgekehrt, um ihre Angehörigen zu schützen. Jay schreibt, die Behörden hätten die Kinder, die zu Opfern geworden waren, als "außer Kontrolle" kategorisiert. Am meisten erbittert Jay aber, dass es insgesamt drei Berichte über den massiven und organisierten Kindesmissbrauch in Rotherham gegeben hatte. Im Jahr 2002 wurde der erste Bericht nach drei Jahren Recherchen vorgelegt. Dieser sei "unterdrückt" worden, heißt es in dem Bericht. Der Grund sei wohl gewesen, dass die Opferzahlen für übertrieben gehalten worden seien. Zwei weitere Untersuchungen in den Jahren 2003 und 2006 seien schlicht ignoriert worden. Ein Opfer sagte dem britischen Sender BBC am Mittwoch bitter: "Die Täter waren unantastbar." Diese Erfahrung mussten auch zwei Väter machen, die ihre entführten Töchter aufgespürt hatten und dann dort von der Polizei verhaftet wurden. Einige Opfer, schreibt Jay, seien wegen Trunkenheit oder anderer Delikte verhaftet worden. Ihnen sei bei der Polizei nicht geglaubt worden.

In den vergangenen vier Jahren sieht Jay Verbesserungen in der Polizeiarbeit und der Behördenorganisation. Es gibt nun eine Sondereinheit der Polizei, die Missbrauchsverbrechen verfolgt und Opfern Hilfe anbietet. Bis Mai 2014 habe diese Einheit an 51 Fällen gearbeitet.

Auch anderswo wurde der Missbrauch ignoriert

Star-Moderator Jimmy Savile konnte sein zügelloses Unwesen in der BBC treiben, ohne von Kollegen verraten zu werden. Berichte über Gewalttaten sogenannter Erzieher in walisischen Kinderheimen blieben jahrelang liegen - wohl aus Angst vor Schadensersatzansprüchen der Betroffenen, wie der entlarvende „Jillings-Report“ im vergangenen Jahr aufdeckte. In Nordirland warteten Opfer Jahrzehnte auf die Möglichkeit, überhaupt gehört zu werden.

Rotherham passt in dieses Schema des „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“. Opfer berichteten, sie seien von der Polizei bei ihrer Zeugenvernehmung nicht ernst genommen worden, weil sie ohnehin als Problemkinder aus der untersten Schicht des englischen Klassensystems galten. Andere beklagten, die Behörden hätten ihn nicht geglaubt. Eine gesellschaftliche Debatte über dieses Probleme findet in Großbritannien derzeit nicht statt. Die Diskussion zielt eher auf die Frage, ob der örtliche Polizeichef zurücktreten muss.

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