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Nadja Benaissa wurde durch die Castingshow "Popstars" Teil der Mädchenband "No Angels".

© ddp

Nadja Benaissa: „Ich habe mich so sehr gehasst“

Drogen, HIV, schwanger mit 16, Popstar, verurteilt: Das ist Nadja Benaissas Leben. Nun will sie in Berlin neu anfangen – mit Liedern von Rio Reiser

Nadja Benaissa, 28, war Teil der erfolgreichen Mädchenband „No Angels“. Dass sie HIV-positiv ist, konnte sie bis zu ihrer Festnahme 2009 verbergen – im August wurde sie wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren auf Bewährung und Sozialstunden verurteilt. „Alles wird gut“ ist der Titel ihrer Biografie (Edel).

Frau Benaissa, Sie sind gerade nach Berlin gezogen. War es einfach, für Sie und Ihre Tochter eine Wohnung zu finden?

Nein. Das war ein Vollzeitjob. Ich stand unter Druck, meine Wohnung in Dreieich bei Frankfurt hatte ich gekündigt. So hab ich mir bis zu acht Besichtigungen am Tag aufgehalst und dabei viel Schlimmes gesehen: Böden, in denen der Schwamm saß, heruntergerissene Tapeten, total verdreckte, abgeranzte Wohnungen eben. Ich hatte oft Pech. Viele Vermieter haben mich abgelehnt.

Weil Sie gerade eine Bewährungsstrafe verbüßen?

Wahrscheinlich. Außerdem bin ich alleinerziehend, HIV-positiv und Freiberuflerin.

Sie haben selbst auch mal Immobilien besessen. Hätten Sie sich als Mieterin akzeptiert?

Ich hatte natürlich Leute, die das für mich erledigt haben. Aber grundsätzlich habe ich ein Paar mit Festanstellungen einem Künstler ohne regelmäßiges Einkommen vorgezogen, klar.

In welchem Stadtteil haben Sie dann eine Wohnung gefunden?

Im Grünen. Ich hatte großes Glück. In meiner Preisklasse ist es eine absolute Traumwohnung. Mit Balkon sogar.

Bei den Wohnungsbesichtigungen haben Sie bestimmt viel Aufmerksamkeit erregt.

Nein, es wurde nicht richtig gestarrt, sondern mehr so aus den Augenwinkeln geguckt. Interessanter ist es zum Beispiel im Supermarkt, da werde ich ganz oft von Wildfremden gefragt: „Was machst du denn hier?“ Ja, was soll ich schon machen? Einkaufen.

Wie sieht Ihr Alltag gerade aus?

Ich stehe um Viertel nach sechs auf, wecke meine Tochter Leila, mache Frühstück, fahre sie in die Schule. Danach räume ich auf, richte die Wohnung ein, kümmere mich zum Beispiel um einen Internetanschluss und erledige Behördengänge.

Und wann ist ein Tag für Sie ein guter Tag?

Wenn ich erledigen konnte, was ich mir vorgenommen habe. Es ist total neu für mich, alles selbst zu organisieren. Am Vorabend mache ich eine Liste: Ich muss zur Post, ich muss zur Bank, ich muss dieses und jenes einscannen und wegfaxen. Ich renne den ganzen Tag rum und erledige Sachen. Abends lege ich mich ins Bett, aber alles muss aufgeräumt sein, sonst kann ich mich nicht entspannen. So ein Haushalt braucht seine Zeit. Wenn alles fertig ist, bin ich zufrieden, weil ich die Kontrolle über mein Leben habe und es allein schaffe.

Berlin hat Sie gereizt?

Hier kann ich frei sein. Leila und ich waren im Sommer schon vier Wochen zu Besuch bei einer Freundin. Ich bin mit nachts mit dem Auto durch die Straßen gefahren, habe Radio gehört und hatte seit langem wieder das Gefühl, dass ich lächeln kann. Meine einzige Sorge war: Muss ich wieder ins Gefängnis?

Sie waren angeklagt, weil Sie mit mehreren Menschen ungeschützten Sex gehabt haben, ohne diesen Ihre HIV-Infektion zu offenbaren. Wie sind Sie mit der Vorstellung, womöglich ins Gefängnis zu müssen, umgegangen?

Ich habe mir etwas Konstruktives ausgemalt, das hatte mir ein Psychologe geraten. Dass ich im Knast arbeite oder im Chor mitsingen kann. Mit anderen Worten: Ich habe versucht, aus Scheiße Gold zu machen.

Was ging in Ihnen vor, als der Richter das Urteil verlas?

Ich habe die ganze Zeit geweint, in Sturzbächen. Die 30 Minuten kamen mir wie fünf Stunden vor. Der Prozess war so demütigend, jeden Tag saßen Ex-Partner im Saal, manche erzählten irgendwelche Lügen, die sie irgendwo aufgeschnappt hatten. Ich fand es schrecklich, dass so ein Bild von mir gezeichnet wurde: Ich sei untreu, hätte an Gangbangs teilgenommen … das stimmt alles nicht. Mein Anwalt hat mir oft ein Fisherman’s Friend hingeschoben, damit ich mich beruhige. Dann bin ich nach Hause und hab mich gegoogelt.

Die „B.Z.“ schrieb: „Ein Amüsier-Girlie wird Nadja Benaissa nie mehr sein, sie ahnt jetzt das Jenseits, ihr Blick geht in die Ferne und ins Leere, manchmal lächelt sie wie die Sünderin Maria Magdalena vor 2000 Jahren.“

Ja, ja. Ich wollte einfach herausfinden, was in „Bild“ und bei „RTL Explosiv“, „Exklusiv“, „Punkt Neun“ und „Punkt Zwölf“ über mich verbreitet wurde. Es war mir eine Freude und eine Erleichterung, manches an meinen Anwalt weiterzuleiten.

Hat sich Ihr Bewährungshelfer inzwischen bei Ihnen gemeldet?

Bis jetzt nicht. Ich habe mich aber schon entschieden, dass ich meine Sozialstunden in einem Aids-Hospiz ableisten will. Ich hätte auch an Schulen gehen können und aufklären, aber das wäre mir zu viel geworden. Dort hätte mir wieder jeder ins Ohr gebrüllt: No-Angels-Daylight-Aids-Könnenwireinfotomachen!

Finden Sie Ihr Urteil gerecht?

Ja. Wenn man bedenkt, was in der Gesetzgebung möglich ist, finde ich es gerecht. Ich bin sehr dankbar, dass es keine Gefängnisstrafe geworden ist.

Am 11. April 2009 wurden Sie vor einem Auftritt in Frankfurt festgenommen und zehn Tage in U-Haft genommen. Die „Süddeutsche“ schrieb über die Darmstädter Staatsanwaltschaft: „Immer wieder ist zu beobachten, dass Staatsanwälte vor Kameras den großen Auftritt suchen, dass sie mitunter geltungssüchtig oder überfordert sind.“

Ach wissen Sie, ich hatte zu diesem Zeitpunkt ein dunkles Geheimnis, über das ich mit niemandem sprechen konnte. Das frisst einen von innen auf. Ich hatte so tiefe, extreme Schuldgefühle und habe mich so sehr gehasst, dass ich mir gar nicht zugestanden habe, mir könnte etwas Ungerechtes widerfahren. Ich habe mich auch in Beziehungen gestürzt, in denen ich schlecht behandelt wurde, weil ich mich minderwertig gefühlt habe. Alles Schlimme, das mir passierte, habe ich einfach so akzeptiert – ich hatte es verdient, glaubte ich. Ich war paranoid, weil ich Angst hatte, dass es rauskommen könnte.

Zwei Ihrer Bandkolleginnen wussten von Ihrer Infektion …

… denen habe ich mich anvertraut, und die haben Stillschweigen bewahrt, was die meisten Menschen nicht können. Nein, irgendwann habe ich meiner Managerin davon erzählt, weil ich öfter mal zum Arzt muss, meinen Schlaf brauche und mich gesund ernähren will. Schon kurze Zeit später kamen die ersten Erpressungsversuche der Boulevardpresse. Ich erfuhr von der Managerin, dass ich denen ein negatives Attest von meiner Tochter geben sollte – sonst würden die mich outen. Habe ich nicht gemacht. Danach kamen immer wieder mal Anfragen. Als dann die Anzeige gegen mich erhoben wurde …

… von dem Mann, den Sie angesteckt haben …

… landete ich bei einem Anwalt, der nur meine Interessen vertrat – und nicht die von der Plattenfirma oder einem Fernsehsender.

Erinnern Sie sich daran, wann Sie zum ersten Mal von HIV gehört haben?

Da war ich so acht oder neun. Meine beste Freundin, die Tina, hatte auf dem Spielplatz eine Spritze gefunden und sich damit gestochen. Meine Eltern und ihre Eltern haben sich aufgeregt, Tina musste zum Arzt. So haben sie mir erklärt, was HIV ist. Später waren wir einmal im Schwimmbad. Ich bin ja eine Wasserratte, aber da wollte ich nicht schwimmen. Ich dachte: Was ist, wenn jemand Aids hat? Dann stecke ich mich an! Ich habe keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin. Aus der Schule konnte ich es nicht haben. Mit zwölf bin ich nicht mehr zum Unterricht gegangen. Mein Leben ist früh aus den Fugen geraten.

Mit 15 waren sie abhängig von Crack und lebten auf der Straße, im Frankfurter Bahnhofsviertel.

Das war definitiv das Schlimmste in meinem Leben, ich habe das all die Jahre verdrängt. Man denkt an nichts anderes als die Beschaffung von Drogen. Nicht an Mama, Papa oder den Bruder.

Träumen Sie manchmal von dieser Zeit?

Ich habe bestimmt sieben, acht Jahre immer wieder davon geträumt, dass ich Crack rauche und total drauf bin. Selbst im Traum war das Gefühl schlimm, wieder mehr Drogen zu brauchen.

Ihrer Biografin Tinka Dippel haben Sie erzählt: „Ich habe extrem geraucht, nicht mehr gegessen, nicht mehr getrunken, nicht mehr geschlafen. Total abgemagert, der ganze Körper kaputt, überall Abszesse, Entzündungen, Krankheiten. Man raucht und kotzt und raucht und kotzt.“

Ich hätte nie gedacht, dass aus mir ein Junkie werden würde.

Sie haben damals nicht nur Ihr Leben zerstört, sondern auch das Ihrer Eltern.

Das würden sie mir niemals vorwerfen, aber ich denke, es stimmt. Es ist das Furchtbarste, was einem passieren kann, wenn man sieht, wie das eigene Kind stirbt. Sie haben auch ihr ganzes Geld ausgegeben, um mich zu finden. Oder sie haben es Leuten gegeben, damit sie mir nichts mehr verkaufen. Mein Vater konnte nicht arbeiten gehen.

Sie haben erst mit den Drogen aufhören können, als Sie mit 16 schwanger wurden. Hat Ihnen Ihre Tochter das Leben gerettet?

Das kann man so sagen. Plötzlich war da dieser Wille, zu überleben.

Sind Sie jetzt clean?

Ja. Ich weiß, wenn ich das Zeug nur noch ein einziges Mal nehme, ist mein Leben vorbei. Aber geschafft hat man’s nie. Es gibt auch Momente, da taucht eine Teufelsstimme auf und sagt: Jetzt eine Pfeife, und dir wäre alles egal. Gerade als die Zeit mit dem Prozess war. Aber eine Zigarette auf dem Balkon, das muss ab und zu sein.

Ihre Tochter war noch kein Jahr alt, als Sie zum Casting für „Popstars“ gingen. Vier Wochen später waren Sie Teil der erfolgreichsten deutschen Mädchenband der Geschichte.

Wir hatten keine Ahnung von nichts. Alles wurde für uns gemacht. Jede Woche bekam ich ein neues Schedule, auf dem alle Termine standen. Man wurde abgeholt und hingebracht und wieder abgeholt und woanders hingebracht. Dabei wurden wir von der Security abgeschirmt. Kein Park mehr, kein Schwimmbad. Überall waren schreiende Leute um mich herum.

Sie hätten doch aussteigen können!

Dazu war ich zu ehrgeizig. Auf einmal hatte ich die Möglichkeit, richtig viel Geld zu verdienen. Ich wollte meinen Eltern Urlaub schenken, ein Auto, Wohnungen. Und Geld zurücklegen für meine Tochter. Da denkt man sich, dass man dumm wäre, wenn man nicht weitermacht.

Dem „Stern“ haben Sie gesagt: „Die Zeit mit den No Angels war ein Albtraum.“ Sie hätten die Klamotten gehasst und die Musik sowieso.

Das stimmt. Ich habe vorher nur Nirvana gehört und die Stone Temple Pilots, später auch Tracy Chapman und Lenny Kravitz und Mary J. Blidge. Popmusik hat mich nie gejuckt. Deswegen war es total komisch, in einer Popgruppe zu sein. Wenn man ein Album aufnimmt mit 15 Liedern – und man findet nur zwei davon ganz in Ordnung, hat man ein Problem.

Sie hassen angeblich besonders den Song „Venus“, der auch in einem Werbespot für einen Damenrasierer zu hören war. Warum?

Oh weh, das war furchtbar, wie der produziert war. Dieser Song hat mich angekotzt. Das war wohl eine Spiegelung meiner damaligen emotionalen Verfassung: Ich konnte mein Kind nicht sehen, mir ging es gesundheitlich nicht gut, ich wurde erpresst. Ich möchte nie wieder so leben.

Frau Benaissa, es hat also gar keinen Spaß gemacht, ein Popstar zu sein?

Doch. Konzerte zum Beispiel machen einen Riesenspaß. Da war ich Feuer und Flamme. Aber die Kehrseite sind Homestorys für RTL, so in der Richtung: Wir lassen uns in der Sauna filmen.

Das gab’s?

Sauna nicht, aber Massage. Die denken sich einiges aus. Die Frage lautet: Was kann man RTL jetzt wieder anbieten? Ich hab dann immer gesagt: Wieso um alles in der Welt soll ich RTL was anbieten? Das ist doch Irrsinn und hätte nicht mehr CDs verkauft. Herbert Grönemeyer lässt sich auch nicht bei der Massage filmen.

Nun machen Sie Musik, die Ihnen besser gefällt?

Ja. Ich arbeite gerade an einer Platte mit Rio-Reiser-Songs. Irgendwann habe ich gemerkt, dass viele Lieder, die ich mag, Coverversionen von ihm sind, zum Beispiel „Für immer und Dich“. Nach der U-Haft habe ich eine Doppel-CD von ihm gehört, die mir ein früherer Manager geschenkt hatte. Da musste ich so lachen. Es gibt dieses Lied von Rio, „Manager“, das trifft genau zu.

Da geht es um die Abhängigkeit eines Künstlers von seinem Management. Was ist mit „Der Traum ist aus“? „Alle Türen waren offen / die Gefängnisse war’n leer. Es gab keine Waffen und keine Kriege mehr.“

Auch gut. Es ist unfassbar, wie das alles auf mein Leben passt. Man muss es erst ein paar Mal hören, die Musik ist nicht mehr so aktuell. Aber dieser Soul, den er hat, diese Stimme! Ich bin ein Riesenfan von Rio Reiser geworden. Außerdem ist da seine Lebensgeschichte: Er ist auch pleitegegangen, wurde abgezockt, hatte schlechte Erfahrungen mit dem Management. Er konnte einfach sagen, was er denkt. Das bewundere ich.

Vor zehn Jahren waren Sie oft im Tommy-Weisbecker-Haus in Kreuzberg. Gehen Sie jetzt wieder hin?

Das ist lustig, die Leute, mit denen ich damals Kontakt hatte und die mich supernett aufgenommen haben, sind immer noch da. Ein paar Rastafaris im Hochbett, die machen ihre Musik und rauchen. Ich muss Ihnen eine Geschichte erzählen ... mit den No Angels haben wir oft im Hotel Esplanade am Lützowufer gewohnt. Da habe ich es nicht ausgehalten. Diese Stille, diese Obstschalen – ich konnte da nicht schlafen, auch die Minibar half nicht. Also bin ich abgehauen und vom Esplanade zum Tommy-Weisbecker-Haus gelaufen, um aus dieser Welt rauszukommen.

Wollen Sie weiter ein Leben in der Öffentlichkeit führen und auf der Bühne stehen?

Singen möchte ich immer. Ich habe den festen Glauben, dass ich das hinbekomme. Ich habe aber nicht den Anspruch, dass ich soundso viel Geld zum Leben brauche. Da bin ich eher minimalistisch.

Das Gespräch führten Esther Kogelboom und Ulf Lippitz.

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