zum Hauptinhalt
Einsatzkräfte des italienischen Bergrettungsdienstes arbeiten nach dem Absturz der Seilbahngondel an der Unfallstelle in Stresa.

© Piero Cruciatti/dpa

Nach Absturz mit 14 Toten: Schock-Video des Seilbahnunglücks verärgert viele Italiener

Die italienischen Medien haben das Video der Todesfahrt der Mottarone-Seilbahn veröffentlicht – und damit eine Debatte über die Grenzen des Journalismus ausgelöst.

Das Video war von den Überwachungskameras in der Bergstation der Mottarone-Seilbahn aufgezeichnet worden. Es zeigt die letzten 59 Sekunden im Leben der 14 Passagiere: Die weiß-rote Gondel nähert sich der Bergstation, verlangsamt sich auf Schritttempo – und wenige Meter vor dem Ziel passiert es: Das Zugseil reißt. 

Durch den plötzlich fehlenden Zug bewegt sich das Fahrgestell der Kabine ruckartig in Richtung Tal; die Gondel selber schwingt nach oben, fast in die Vertikale, dann rast sie ungebremst und immer schneller werdend talwärts. Beim ersten Stützpfeiler wird sie – bereits über 100 km/h schnell – aus dem Tragseil geschleudert und stürzt in die Tiefe. Die Aufprallstelle befindet sich nicht mehr im Blickfeld der Kamera.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die Bilder sind der pure Horror – dennoch haben praktisch alle italienischen Medien das Video am Mittwoch veröffentlicht. Den Anfang gemacht hat das dritte Programm des Staatssenders RAI; die anderen öffentlich-rechtlichen und privaten Sender zogen nach, und auch die Printmedien stellten das Video auf ihre Internet-Portale.

Die Aufnahmen sind gestochen scharf; im Hintergrund ist das hellgrüne Frühlingslaub der Bäume und, tief unten, der Lago Maggiore zu sehen. Die meisten Medien – aber nicht alle – haben die gut erkennbaren Gesichter der todgeweihten Passagiere verpixelt. Dem Video wurde in der Regel der Hinweis vorangestellt, dass „die Bilder die Sensibilität der Zuschauer verletzen könnten“.

Staatsanwältin schätzt Verbreitung als rechtswidrig ein

Das haben sie offenbar auch: In zahlreichen Kommentaren empörten sich TV-Zuschauer und Leser über die Veröffentlichung des Todesvideos. Damit werde, so der Tenor, auf zynische Weise die Sensationsgier und der Voyeurismus des Publikums bedient.

[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's nun mit Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]

Hart ins Gericht mit den Medien ging auch die Staatsanwältin von Verbania, Olimpia Bossi: „Die Veröffentlichung des Videos ist absolut unangebracht und außerdem potentiell rechtswidrig“, erklärte Bossi. Sie hatte nach dem Unglück drei Seilbahn-Verantwortliche verhaften lassen: Ihnen wird vorgeworfen, mutwillig die Notbremsen außer Betrieb gesetzt zu haben, um eine Betriebsunterbrechung der Bahn zu vermeiden, den eine Reparatur der Bremsen unweigerlich zur Folge gehabt hätte. Bei der mutmaßlichen Manipulation sollen Klammern zum Einsatz gekommen sein.

Menschen stehen vor einem Kiosk in Stresa, an dem eine Zeitung mit der Schlagzeile „Mottarone-Tragödie mit 14 Toten“ ausgehängt ist.
Menschen stehen vor einem Kiosk in Stresa, an dem eine Zeitung mit der Schlagzeile „Mottarone-Tragödie mit 14 Toten“ ausgehängt ist.

© Antonio Calanni/AP/dpa

Das Video befand sich seit längerem in den Ermittlungsakten und war auch den Anwälten der Angeklagten und der Privatkläger zugänglich. Wer es an den Staatssender RAI 3 durchgestochen hat, ist unbekannt. Die italienische Datenschutzbehörde appellierte am Donnerstag in Rom an Medien und Nutzer von Sozialen Netzwerken, die Aufnahmen nicht weiter zu verbreiten: „Sie können nur den Schmerz der Familien der Opfer und ihrer Angehörigen verschlimmern.“

Zweifelhafte Begründung für die Verbreitung des Videos

Nach Medienberichten soll die Polizei die Aufnahmen weitergegeben haben, doch die Carabinieri dementierten die Verbreitung, wie die Nachrichtenagentur Ansa am Mittwoch schrieb. Die italienischen Medien rechtfertigen die Veröffentlichung mit ihrem Informationsauftrag: „Die Bilder sagen mehr als tausend Worte und belegen außerdem, dass das Unglück mit funktionierenden Notbremsen vermieden worden wäre“, schrieb die Turiner Zeitung „La Stampa“ am Donnerstag. 

Diese Begründung ist freilich mehr als fadenscheinig: Der Erkenntnisgewinn für das Publikum aus dem Video ist gleich null; über den Ablauf und die Ursachen des Seilbahn-Absturzes haben die Behörden ausführlich informiert, und es bestanden diesbezüglich keinerlei Zweifel oder Fragen mehr, die durch die Publikation des Videos eventuell noch hätten ausgeräumt werden können.

Der Vorfall belegt, wie sich die ethischen Grenzen des Journalismus, nicht nur in Italien und nicht nur bei den sogenannten Boulevard-Medien, immer weiter verschieben: hin zur größtmöglichen Emotionalisierung. Die traditionellen Medien – viele von ihnen befinden sich im wirtschaftlichen Überlebenskampf – stehen in Konkurrenz zu sozialen Netzwerken und Internet-Plattformen, auf denen selbst die menschenverachtendsten Inhalte frei zugänglich sind.

Das Todesvideo hätte also seinen Weg ins Internet und damit an ein Millionenpublikum auch ohne die Publikation durch die italienischen Medien gefunden. Rechtfertigt dies die Publikation? Eine Antwort könnte Artikel 1 im deutschen Grundgesetz liefern: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt auch in Zeiten des Internets, das wenig Regeln kennt. Mit dem Video ist die Menschenwürde der Opfer und ihrer Angehörigen auf krasse Weise verletzt worden.

Zur Startseite