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Ansturm auf die Zugspitze. Die Menschen drängeln sich am Gipfelkreuz.

© picture alliance / Rolf Wilms

Massenansturm auf die Alpen: Unter den Gipfeln ist Unruh

Wandern, klettern, Gipfel stürmen: Die Alpen werden von Besuchern überrannt – die Folge sind Naturzerstörung, Unfälle und Lärm. Die schöne Ruhe ist dahin.

Nicht immer geht es so glimpflich ab wie bei jenen Wanderern im August an der Rotwand in der Nähe von Bayrischzell. Dort rutschte eine junge Kuh aus, fiel über einen Felsen und stürzte in die Gruppe. Eine Frau brach sich eine Rippe, zwei weitere konnten gerade noch wegspringen. Auch die Kuh erlitt Verletzungen – laut Polizeibericht entfernte sie sich „humpelnd von der Unfallstelle“.

Berge sind voller Gefahren. Wanderer müssen Klippen und Steinschlag fürchten. Und doch zieht es die Menschen gerade im Herbst in die Berge, wenn das Wetter noch schön ist und nicht zu heiß oder zu kalt für die Touren. „Die Berge sind Tag und Nacht bevölkert“, sagt Roland Ampenberger von der Retter-Organisation. 6000 Einsätze gab es im vergangenen Jahr in dem 350 Kilometer langen Gebiet, das von Berchtesgaden im Osten bis Oberstdorf im Westen reicht.

Der Berg ruft, und alle kommen

Der Berg ruft und alle kommen, unter den Gipfeln ist Unruh. Fünf Millionen Gästebetten gibt es im gesamten Alpenraum, 500 Millionen Übernachtungen jährlich. Es wird gewandert und geklettert, auf dem Mountainbike gerast und mit der Seilbahn rauf- und runtergefahren.

Was geschieht dabei mit dem Berg? Die Tourismuswirtschaft preist und lobt das erlebnisreiche Freizeitvergnügen in der intakten Natur. „Auszeit, Aktivzeit, Kulturzeit“, werben die Ammergauer Alpen. Für Umweltschützer allerdings hat das rege Treiben auch manche Kehrseiten. „Wandern an sich ist eine super Sache“, lobt Thomas Frey, Alpenexperte vom bayerischen Bund Naturschutz (BN). Eine der Hauptbelastungen ist aber der Anreiseverkehr, sagt Frey. „Es entstehen immer mehr Straßen und riesige Parkplätze, die Alpen sind für Besucher immer besser zu erreichen.“ Die Folge: Autoabgase, Luftverschmutzung, Lärm.

Die Alpen leiden unter dem Ansturm

Im Jahr 2000 wurden an der B 19 südlich von Kempten 17 000 Kraftfahrzeuge an einem Tag gezählt, zehn Jahre später waren es 23 000, berichtet Frey. „Das liegt auch daran, dass es immer mehr Tagestouristen gibt und die Leute nicht mehr so häufig für eine oder zwei Wochen bleiben.“ Die „Verlärmung“ sei unglaublich. Er selbst war kürzlich mit seinen Söhnen auf dem Spieser im Allgäu – der ganze Autolärm ziehe da hoch auf den Berg. In vielen Urlaubsorten versucht man gegenzusteuern. Wer in Hotels oder Ferienwohnungen übernachtet, erhält etwa Gratis-Fahrscheine für die örtlichen Busse. Dennoch laufen im Radio jedes Wochenende dieselben Staumeldungen von der A 7 zwischen Ulm und Füssen oder der A 8 München–Salzburg.

Die Berge leiden unter der „Erschließungsspirale“, wie die Fachleute sagen. Mit vielen Subventionen würden in Bayern etwa die Forstwege immer weiter ausgebaut. Die Anzahl der Lifte und Bergbahnen nimmt zu, diese werden auch stets luxuriöser. Der Mensch frisst sich in den Berg rein, für Thomas Frey ist das die „Möblierung der Alpen“. Und manche wollen wie Entdecker am liebsten dahin, wo womöglich noch kaum einer war. Die ruhebedürftige Tierwelt wird vertrieben.

Die Tourismus-Branche setzt auf immer neue spektakuläre Events

Am Berg wird auch der Kick gesucht. Der Deutsche Alpenverein mahnt immer wieder, dass sich Wanderer und Kletterer nicht überschätzen sollten. Die Kondition sollte gut sein, regelmäßiges sportliches Training ist eine Voraussetzung. Auch sollte so geplant werden, dass man früh sein Ziel erreicht und nicht in zeitliche Schwierigkeiten kommt.

Entsetzen und Fassungslosigkeit rief kürzlich das Schicksal einer 24-jährigen Chinesin aus München hervor. Mit einem Begleiter bestieg sie die Zugspitze auf der schwierigsten Route. Das Paar hatte sich verschätzt – erst am Abend gelangte es an den Gipfel. Dann wollten sie im Dunkeln wieder hinunter. Es begann zu schneien, die Frau verlor vermutlich die Orientierung und stürzte 500 Meter hinab in die Tiefe. Zwei Hubschrauber mussten bis tief in die Nacht suchen, schließlich fand man ihre Leiche. Sie trug Turnschuhe.

Viele Chinesen tragen Turnschuhe, wenn sie klettern

Auch waren die Chinesen weder mit Seil noch Helm ausgerüstet, wie die Bergwacht Grainau mitteilte. Tragisch, aber selber schuld, sagen da manche. „Wir urteilen nicht, ob sich ein Bergwanderer richtig verhalten hat oder nicht“, erzählt Bergwacht-Sprecher Roland Ampenberger, „sondern wir sorgen für die schnellstmögliche Hilfe in jedem Fall“. Noch Mitte der 2000er Jahre herrschte Flaute im Freistaat, jährlich wurden 74 Millionen Gästeübernachtungen gezählt. Seit zwei Jahren ziehen die Zahlen aber wieder deutlich an: 2012 gab es bayernweit laut Landesamt für Statistik 84 Millionen Übernachtungen, das ist Rekord.

48 Tote wurden 2012 beklagt, jetzt sind es schon 44 in rund neun Monaten. Am Klettersteig des Hohenstaufen etwa stürzte ein Mann in die Tiefe, er war allein unterwegs und hatte weder einen Helm noch eine Sicherung. Auf 1700 Meter Höhe kam ein Wanderer am Watzmann vom Weg ab und fiel 200 Meter tief.

Luis Trenker schrieb über die Gipfel, der postmoderne österreichische Gegenwartsschriftsteller Christoph Ransmayr tut es ebenso. Das Alpenglühen wird im Musikantenstadel beschworen, doch auch der Rocker Hubert von Goisern jodelt inbrünstig. „Der Urlauber will Natur erleben“, ist sich BN-Sprecher Frey sicher, „und keine inszenierten Events“.

Verschandelung der Landschaft

Das sieht die Tourismusindustrie anders. Immer mehr, immer schriller, immer künstlicher wird der Freizeitpark Alpen ausgestattet. Jahrelangen Streit hat es bei der Planung des „Allgäuer Dorfes“ bei Füssen gegeben. In schönster Landschaft sollte in einem Ferienpark eben jenes Allgäu simuliert werden – mit Bauernhof, Marktplatz und Fischteich. Urlauber hätten dort ihre Zeit verbringen können, ohne je nach draußen ins tatsächliche Allgäu gehen zu müssen. Der Widerstand der Gemeinde Schwangau brachte das Projekt zu Fall. Man wollte nicht im Allgäu Allgäu spielen. Durchgesetzt wurde hingegen im Jahr 2010 die „Alpspix“-Aussichtsplattform bei Garmisch-Partenkirchen. Auf 2000 Metern Höhe ragt der Steg über das Tal. Die Betreiber der Bergbahnen wollen mit der Attraktion Geld verdienen, Naturschützer halten sie für eine Verschandelung der Landschaft. Zu Gedränge kommt es an schönen Tagen auch in Nesselwang. Am dortigen Hausberg, der Alpspitze, gibt es seit zwei Monaten nun auch den „Alpspitzkick“. Der Mensch hängt bei diesem „Flying Fox“ am Seil, hat einen Sitz unter sich und kann mit bis zu 130 km/h hinunterrasen. Der Alpenverein stellte sich gegen diesen „Ramba-Zamba“, die Alpen seien „kein Vergnügungspark“, sagt Vizepräsident Ludwig Wucherpfennig. Für die Touristik- und Eventmanager sind das nur antiquierte Ansichten.

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