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Razzia im Eiscafe. Die Strukturen hinter den Straftaten bleiben oft unangetastet.

© imago/Reichwein

Mafia-Experte warnt vor Gefahr: ’Ndrangheta operiert in Deutschland längst im großen Stil

Der Mafia-Experte Sandro Mattioli erklärt, wie die ’Ndrangheta hierzulande arbeitet – und was es mit ihrem geheimen Aufsichtsgremium auf sich hat.

Sandro Mattioli ist investigativer Journalist. Er recherchiert zu den Aktivitäten der italienischen Mafia in Deutschland und Europa. Er ist Vorsitzender des Vereins „Mafia? Nein, Danke!“

Herr Mattioli, Sie beobachten schon länger, wie gut organisiert die kalabrische Mafia in Deutschland ist. Recherchen von MDR und „FAZ“ belegen, dass die ’Ndrangheta hierzulande sogar über ein geheimes Aufsichtsgremium verfügt, den Crimine di Germania. Warum ist Deutschland für die ’Ndrangheta so wichtig?
Das hat mehrere Gründe. Der erste liegt in der Zuwanderungsgeschichte: Viele Süditaliener kamen in den 50er und 60er Jahren als Gastarbeiter hierher, sodass für Mafiosi bereits Andockstationen da waren. Zum Zweiten ist Deutschland politisch und wirtschaftlich sehr stabil und damit attraktiv für Investments.

Und drittens ist in Deutschland die Sensibilisierung für das Thema Mafia sehr gering und die rechtliche Situation für Mafiosi damit günstig. In der Summe entsteht eine Sogwirkung. Deutschland ist für die ’Ndrangheta außerhalb Italiens das wichtigste Land.

Das geheime Kontrollgremium, über das nun berichtet wird, existiert schon seit mehreren Jahren. Was hat es damit auf sich?
Neu ist vor allem, dass jetzt auch das BKA die Existenz dieses Gremiums bestätigt hat. Mir berichtete ein Kronzeuge schon 2012, dass Deutschland genauso wie Nordamerika in der Organisationsstruktur der ’Ndrangheta eine sogenannte „Provincia“ ist. Da gehört so ein Kontrollgremium dazu.

Eingerichtet wurde der deutsche Crimine nach den Mafiamorden von Duisburg, bei denen 2007 sechs Männer erschossen wurden. Die Morde gingen auf eine alte Familienfehde zwischen zwei Clans der ’Ndrangheta zurück. Das Gremium sollte fortan für Ausgleich sorgen und verhindern, dass sich solche Streitigkeiten wiederholen. Blutige Fehden erschweren nämlich die Aktivitäten der ’Ndrangheta. Sie agiert lieber im Verborgenen.

Wie kann man sich das Wirken der ’Ndrangheta hierzulande vorstellen? Sie gilt als gefährlichste der italienischen Mafiaorganisationen.
Sie verdient mit vielen verschiedenen Geschäften, legalen wie illegalen, die Haupteinkommensquelle liegt aber im Drogenhandel. Die ’Ndrangheta handelt vor allem mit Kokain auf einem globalen Level. So verfügt sie über extrem viel Geld, kann damit aber erst mal nichts anfangen.

Das heißt, sie muss es „waschen“ und investieren. Italienische Restaurants reichen für diese Mengen an Geld nicht aus, die ’Ndrangheta müsste sonst halb Deutschland mit Restaurants pflastern. Deshalb sind Geschäftskontakte in andere Bereiche wichtig. Es gibt sogar eine Windelfabrik, in die ’Ndrangheta-Gelder geflossen sind. Oder ein Zelt auf einem großen Bierfest, das vermutlich der ’Ndrangheta gehört.

Von wie vielen Mitgliedern der ’Ndrangheta in Deutschland reden wir denn?
Das ist schwer zu sagen. Schätzungen gehen von 800 bis 1000 Mitgliedern aus, es könnten aber auch deutlich mehr sein. Der italienische Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri schätzt, dass es 60 sogenannte „Locali“ in Deutschland geben könnte.

Das sind Untergliederungen der ’Ndrangheta, die jeweils mindestens 50 Mitglieder haben müssen. Das hieße dann, es gäbe mindestens 3000 Mitglieder der ’Ndrangheta, wobei nicht alle davon unbedingt kriminell sind.

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Wie kann man sich diese deutsch-italienischen Mafiosi vorstellen?
Das sind zum Teil sehr unauffällige Leute. Der Leiter eines „Locale“ in Singen in Baden-Württemberg, das aufgeflogen ist, war Arbeiter in einem Metallbetrieb, hat aber gleichzeitig 50 Clan-Mitglieder unter sich gehabt. Aber es gibt natürlich auch die Mafiosi, die wirklich gut gehende Restaurants betreiben und dort fleißig netzwerken, Kontakte aufbauen und wohl auch im Hinterzimmer Absprachen treffen.

Wie vernetzt ist die ’Ndrangheta in die deutsche Politik?
Eine Situation, wo Politiker Mafia-Interessen bedienen, haben wir in Deutschland augenscheinlich nicht. Aber es gibt sie, die Kontakte von Mafiosi zu Politikern und Kommunalpolitikern. Die kommen oft über die Restaurants zustande. Und das kann der ’Ndrangheta natürlich nützen. Wenn Sie einen Gastwirt haben, der hoch angesehen und beliebt ist bei der gesellschaftlichen Elite, ist es natürlich schwerer gegen ihn Ermittlungen durchzuführen.

Wie sind die deutschen Gliederungen mit der Führung in Italien verbunden?
Das Regelwerk sieht eine gewisse Autonomie der Untergliederungen und auch der „Province“ vor. Alles, was über deren festgelegte Kompetenzen hinausgeht, muss mit Kalabrien abgesprochen werden. Der stete Austausch mit Italien, mit dem Herz der ’Ndrangheta dort, ist wichtig. Man kann davon ausgehen, dass da ein kontinuierlicher Informationsfluss herrscht.

Warum ist es für deutsche Ermittler schwer, diese Strukturen zu zerschlagen?
Zum einen ist der politische Wille nicht da, das Problem wirklich anzugehen. Die Lage wird unterschätzt, weil die ’Ndrangheta sehr unauffällig agiert. Dabei ist klar: Wo man die ’Ndrangheta gewähren lässt, wird die Situation immer schlimmer. Zum anderen ist aber auch die Art, wie wir in Deutschland gegen die ’Ndrangheta vorgehen, nicht zielführend.

Es wird generell zu wenig gegen Geldwäsche getan. Und die Sicherheitsbehörden fahren einen sehr tatzentrierten Ansatz. Das hilft kaum weiter.

Der deutsch-italienische Mafia-Experte und Journalist Sandro Mattioli.
Der deutsch-italienische Mafia-Experte und Journalist Sandro Mattioli.

© Foto: Uwe Zucchi/dpa

Warum nicht?
Die deutsche Strafverfolgung ist sehr auf konkrete Straftaten ausgerichtet und weniger darauf, Strukturen aufzuklären. Es nützt wenig, wenn man mal drei Mafiosi festnimmt, weil sie mit Drogen gehandelt haben, und die Strukturen aber bestehen bleiben. Italien ist da weiter.

Dort wird die kriminelle Organisation ’Ndrangheta in Gänze in den Blick genommen, auch der unsichtbare Teil von Clans, der unter anderem aus Staatsanwälten, Polizisten und Politikern besteht. Dieses Vorgehen wird der Realität eher gerecht, als wenn man die Mafia nur als eine kriminelle Organisation betrachtet, die Drogen verkauft. Denn sie ist einfach so viel komplexer.

Sie beklagen aber auch immer wieder, dass sich die deutsche Öffentlichkeit kaum für die Mafia in Deutschland interessiert.
Ja. Mein Eindruck ist, dass die Bekämpfung etwa der libanesischen Clans auf sehr viel mehr Aufmerksamkeit stößt, weil diese im Straßenbild sehr viel auffälliger sind. Dabei ist die ’Ndrangheta ja nicht weniger gefährlich, nur weil man weniger von ihr mitbekommt.

Gab es etwas in Ihrer Arbeit als Journalist, das Ihnen Angst gemacht hat?
Mir wurde bereits gedroht, das ist natürlich nicht schön. Wirklich besorgniserregend fand ich aber noch eine andere Begebenheit. Da kam ich bei einer Recherche mit einem Kollegen in eine deutsche Kleinstadt, wo die ’Ndrangheta eine gewaltige Rolle spielte. Wir haben geparkt, gingen 300 Meter durch die Fußgängerzone und setzten uns in eine Bäckerei.

Dann kamen zwei Italiener rein, bestellten und gaben uns mit sehr eindeutigen Blicken zu verstehen, dass sie ein Auge auf uns haben. Nur dieser bloße Akt, zu zeigen: „Wir wissen, dass ihr da seid“ – das fand ich sehr verstörend. Das kannte ich zuvor nur von Mafia-Orten in Kalabrien.

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