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Mehr geht nicht. Im Erzgebirge leuchten die Fenster in diesem Jahr besonders hell. In Corona-Zeiten wolle man so Zuversicht vermitteln, heißt es.

© Bernd März/dpa-Zentralbild

Leuchten im Erzgebirge: Schwibbögen haben es in sich

Die schönen Leuchter haben eine lange Tradition im Erzgebirge. Inzwischen werden sie in alle Welt exportiert. Eine Kulturgeschichte.

Im Dezember gehört ein Adventskranz ins deutsche Wohnzimmer. Wirklich? „Ich hatte noch nie einen“, sagt Kerstin Börner im sächsischen Olbernhau. Weihnachtlich ist es bei ihr zu Hause trotzdem. Die Mitarbeiterin beim Verband Erzgebirgischer Kunsthandwerker und Spielzeughersteller e. V. stellt einen Schwibbogen ins Fenster. Das hat Tradition im Erzgebirge. „Bei uns in der Gegend sind eigentlich alle Fenster zur Straßenseite mit Schwibbögen geschmückt“, sagt Ringo Müller, Chef der Volkskunstfirma Müller in Seiffen. Ein Familienbetrieb in vierter Generation. Seit 1899 werden hier Pyramiden, Räuchermännchen, Spieldosen und eben Schwibbögen gefertigt. Damit diese elektrisch leuchten können, sei eine Steckdose in der Fensterlaibung obligatorisch. Schöne Bauvorschriften haben sie da im Erzgebirge. Zwar gibt es auch noch Bögen, auf die echte Kerzen gesteckt werden können. Doch meist leuchtet der Schmuck auf Knopfdruck, neuerdings LED-bestückt.

Die Bergleute sehnten sich nach Licht

Wie aber ist der Schwibbogen, sprachlich abgeleitet vom Schwebebogen, eigentlich entstanden? Es gibt verschiedene Theorien. Eine besagt, dass die Bergleute bei einer Zechenfeier ihre Grubenlampen halbkreisförmig an die Wand hängten, um den Eingang des Stollens anzudeuten. Eine andere beschrieb das Himmelszelt mit Sonne, Mond und Sternen, das als Bogen abgebildet werden sollte. Licht war in einer Region, in der viele unter Tage arbeiteten, besonders wertvoll. Denn wenn die Bergleute frühmorgens ihre Schicht begannen, war es noch dunkel, und wenn sie aus der Tiefe wieder auftauchten, war die Sonne längst untergegangen.

Die ersten Bögen wurden von der Familie Teller aus Johanngeorgenstadt in der Mitte des 18. Jahrhunderts geschmiedet. „Gefüllt“ waren diese Werkstücke oft mit der Abbildung des Sündenfalls, der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Engel komplettierten die Szenerie. Klassisch waren aber zwei Bergleute, die mit ihren Händen das kursächsische Wappen stützen. Daneben waren ein Schnitzer und eine Klöpplerin montiert. Die Figuren verkörperten die drei Haupterwerbsquellen der erzgebirgischen Landbevölkerung.

Klassiker. Beleuchtet mit echten Kerzen wird hier die Dresdener Frauenkirche in Szene gesetzt.
Klassiker. Beleuchtet mit echten Kerzen wird hier die Dresdener Frauenkirche in Szene gesetzt.

© Müller Kleinkunst GmbH

In den 30er Jahren wurden Schwibbögen vornehmlich aus Holz gefertigt. Das ist auch heute noch so. Schlichte Figürchen werden in den Bogen gesetzt, aber auch aufwendig gestaltete Szenerien. Müllers ganzer Stolz ist der Schwibbogen „Alt Dresden“. In der Mitte steht die Frauenkirche, daneben das Coselpalais mit 157 filigran gefrästen Fenstern und dem originalgetreu umgesetzten Mansardendach. Angrenzende Stadthäuser en miniature sind von innen beleuchtet, auf der Augustusbrücke stehen Laternen. Ein Kunstwerk.

Wie die Nazis das Kunsthandwerk für sich nutzen

Wenig bekannt sind indes die dunklen Facetten in der Geschichte der Schwibbögen. Wie die Volkskunst von den Nazis vereinnahmt wurde, hat die Historikerin Andrea Biernath erforscht. Für ihr in Kürze erscheinendes Buch „Der Schwibbogen zwischen Weihnachtsbrauchtum und Propaganda“ (Husum Verlag) durchkämmte sie Archive und sprach mit Zeitzeugen vor Ort. Zunächst sei der Schwibbogen in kleineren Stückzahlen im Handarbeit hergestellt worden. Mitte der 30er Jahre aber „erregte die Volkskunst nationales Interesse“, erkannte Biernath. „Die Nazis hofierten Menschen, Kunst und Künstler des Erzgebirges im Sinne ihrer Blut-und Boden-Ideologie“, schreibt die Historikerin. Der Schwibbogen stand schnell im Mittelpunkt. Zum einen zeigte er Handwerkskunst mit säkularen Motiven, im Unterschied zu christlichen Motiven der übrigen Weihnachtskunst. „Zum anderen bot er in der leeren zu füllenden Innenfläche den idealen Hohlraum für Symbole der nationalsozialistischen Ideologie.“ Das 1936 gegründete Heimatwerk Sachsen pflegte sächsisches Volkstum im Sinne der neuen Weltanschauung. Im Zweiten Weltkrieg wurden zerlegbare Schwibbögen als sogenannte Frontgaben zu den deutschen Soldaten geschickt. Sie sollten Trost spenden.

Der Traktorfahrer reicht dem Lehrer die Hand

Nach dem Krieg vereinnahmte die DDR die Volkskunst auf ihre Weise. 1968 gab es 169 Schnitzgemeinschaften, in denen 2500 Schnitzer organisiert waren. Politisch geförderte Zusammenschlüsse, die auch eine Kontrolle der Menschen ermöglichten. Die Volkskunstschaffenden sollten „ihre Freizeit sinnvoll gestalten“, hieß es 1977 im Begleitheft einer Schneeberger Ausstellung. Dass weiterhin eher Reisigweiblein und arme Holzfäller geschnitzt wurden, missfiel der Nomenklatura. Man wünschte die Gestaltung der modernen sozialistischen Gesellschaft. Ein schönes Beispiel für einen sozialistischen Schwibbogen fand Biernath im Nachlass Unger in Schneeberg. „Abgebildet ist eine Bäuerin mit Maiskolben und Traktor im linken Bogenfeld, die einem Fabrikarbeiter in der Bogenmitte die Hand reicht, der wiederum einem Lehrer die Hand gibt.“ Über den Figuren schwebten zwei Friedenstauben, den Hintergrund bildeten Fabrikanlagen.

1990, mit der Wende, begannen nach Biernath „goldene Jahre für den Schwibbogen“. Die Produktionszahlen schnellten rasch in die Höhe, 1999 wurden bis zu 40 000 klassische erzgebirgische Leuchter verkauft.

Dass Schwibbögen inzwischen auch von der Neonaziszene „entdeckt“ und missbraucht würden, ist ein erschreckendes Ergebnis von Biernaths Recherchen. Gewählte Dekors im Innern der Bögen sind ein Schäferhund an kurzer Leine, Bomber, Raketen sowie der Schriftzug „Deutsches Vaterland“. Auf Ebay hat Biernath solche Angebote entdeckt – auch von gewerblichen Anbietern. Das Eiserne Kreuz ersetzt dann das Hakenkreuz, das privat eingesetzt wird.

Fingerfertigkeit ist Pflicht. Die Ausbildung zum Holzspielzeugmacher dauert drei Jahre.
Fingerfertigkeit ist Pflicht. Die Ausbildung zum Holzspielzeugmacher dauert drei Jahre.

© Müller GmbH Seiffen

In aller Regel präsentieren Schwibbögen zum Glück friedliche Szenerien. Biernath gefiel ein Beispiel aus dem Jahr 1991, in dem Skilauf und Sprungschanze von Oberwiesenthal im Mittelpunkt stehen. Rehe und Hirsche treten aus einem Tannenwald hervor. Nach wie vor beliebt sei das Motiv der Seiffener Kirche, sagt Ringo Müller. 1996 war es sein „Meisterstück“. Auch bei anderen Herstellern spielt dieses Gotteshaus eine herausragende Rolle im Schwibbogen. „Auf diese Weise ist die Seiffener Kirche weltweit bekannt geworden“, glaubt Müller.

Er hat sein Handwerk von der Pike auf gelernt. „Ich bin ja als Kind quasi in der Werkstatt aufgewachsen“, sagt der 50-Jährige. 1987 endete seine Lehrzeit. Während seine Familie natürlich auch privat Schwibbögen besaß, hatten DDR-Bürger sonst kaum Chancen, so eine hochwertige Weihnachtsdekoration zu ergattern. „Die Bögen wurden zu 100 Prozent exportiert“, sagt Müller. Als seine Großeltern in den 80er Jahren zu Verwandten nach Nürnberg reisen durften, staunten sie. Denn auf dem Christkindlesmarkt entdeckten sie Schwibbögen aus der eigenen Werkstatt.

Keine Weihnachtsmärkte, keine Touristen: Der Absatz stockt

Die Firma Müller exportiert heute in alle Welt. „Jedes fünfte Produkt geht ins Ausland“, sagt der Chef. Das Geschäft sei in diesem Jahr wegen Corona allerdings eingebrochen. Keine Weihnachtsmärkte – und vor allem: keine Touristen aus den USA oder Asien. Nun hofft er, dass im Frühjahr 2021 wieder internationale Messen stattfinden. „Wenn wir unsere Produkte fürs Weihnachtsfest im kommenden Jahr nicht präsentieren könnten, wäre das schlimm.“ Dass der dekorative Weihnachtsschmuck indes aus der Mode kommen könnte, glaubt er nicht. Für junge Leute etwa, die Sachsen verlassen hätten, transportiere ein Schwibbogen auch Heimatgefühle. „Die stellen sich dann einen ins Fenster.“

Klein und fein. Seit 1899 fertigt die Firma Müller in Seiffen Kleinkunst - ein Familienbetrieb in vierter Generation.
Klein und fein. Seit 1899 fertigt die Firma Müller in Seiffen Kleinkunst - ein Familienbetrieb in vierter Generation.

© Müller GmbH Seiffen

35 Mitarbeiter beschäftigt die Firma in Seiffen. Zu 80 Prozent entstehen alle Produkte in Handarbeit, das Holz stammt aus nachhaltiger Forstwirtschaft. Es wird gedrechselt, geschnitzt, gefräst und bemalt. „Der Beruf Holzspielzeugmacher ist vielseitig und abwechslungsreich“, sagt Müller. Auszubildende zu finden, sei kein Problem. „Wir hatten schon Azubis aus Südafrika oder den USA“, erzählt er. Seiffen sei der einzige Ort auf der Welt, an dem so eine Ausbildung möglich ist. Sie dauert drei Jahre.

Der größte Bogen der Welt steht in Johanngeorgenstadt

Die Bedeutung des Schwibbogens erfährt man in der Region das ganze Jahr. In Johanngeorgenstadt zum Beispiel steht der größte freistehende Schwibbogen der Welt. 25 Meter breit ist er und fast 15 Meter hoch. Vor acht Jahren wurde das riesige Wahrzeichen aufgestellt. 700 Tonnen Stahlbeton halten es in Form, 15 Tonnen Edelstahl wurden verbaut. Seine Kerzenlichter werden nie abgenommen, aber, so heißt es aus der Stadtverwaltung, „nur im Winter leuchten sie auch“. Hinfahren und anschauen – ein schöner Vorsatz fürs kommende Jahr.

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