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Erich Lewis beklagt den Tod seines Freundes. Gemeinsam mit Aktivisten und Familienangehörigen von Opfern der Gewalt in Chicago protestierte er am letzten Tag des Jahres 2016 gegen die immer weiter steigende Zahl von Morden in der Stadt.

© Scott Olson/Getty Images/AFP

Kriminalität in Chicago: Jeden Tag zwei Morde

In keiner anderen US-Großstadt sterben so viele Menschen eines gewaltsamen Todes wie in Chicago – 762 waren es im vergangenen Jahr. Die Polizei wirkt hilflos.

In Chicago hat das neue Jahr so begonnen, wie das alte endete: mit Schüssen, Toten und Verletzten. In der Neujahrsnacht töteten sich zunächst zwei Männer gegenseitig. Wenige Stunden später schossen Polizisten einen Autofahrer an, der ein Stoppschild überfahren hatte. Am Montag tötete ein Polizeibeamter außer Dienst einen unbewaffneten Mann nach einem Streit.

Traurige Routine in Chicago, einer Stadt, die wegen grassierender Gewalt derzeit in den Schlagzeilen ist. In keiner anderen amerikanischen Großstadt sterben so viele Menschen eines gewaltsamen Todes, nirgendwo sonst ist die Polizei so hilflos wie in der Metropole im Bundesstaat Illinois, der Heimat des scheidenden Präsidenten und Waffengegners Barack Obama. Die Stadt, in der einst Gangsterkönig Al Capone seine Killer dirigierte, findet keinen Ausweg aus der Spirale aus Armut, Hoffnungslosigkeit und Gewalt. Ausgerechnet hier will Obama kommende Woche seine Abschiedsrede halten.

Insgesamt 762 Menschen wurden im vergangenen Jahr in Chicago bei gewaltsamen Auseinandersetzungen getötet, das waren 58 Prozent mehr als 2015 und die höchste Zahl seit den Crack-Kriegen auf den Straßen in den 90er Jahren. In Chicago werden jedes Jahr mehr Menschen getötet als in New York und Los Angeles zusammen, obwohl jede der anderen beiden Städte mehr Einwohner hat als Chicago mit seinen 2,7 Millionen Menschen. Die Polizei in Chicago zählte 2016 mehr als 3500 Schießereien – in Medienberichten wird die Stadt als „Kriegsgebiet“ bezeichnet. Allein am Weihnachtswochenende gab es elf Tote bei Feuergefechten. Die Gewalt sei in den südlichen und westlichen Stadtteilen von Chicago zur Normalität geworden, kommentierte CBS.

Bandenkriminalität spielt eine Hauptrolle. 90 Prozent der Opfer der Gewalt sind laut Polizei als Bandenmitglieder oder Vorbestrafte bekannt. Michael Pfleger, ein Pastor in einem der Krisengebiete auf der South Side, sprach beim Sender CBS von 59 Banden, die sich gegenseitig bekriegen. Vor Kurzem sei er an einem einzigen Tag von drei Familien wegen der Beisetzung von Angehörigen angesprochen worden, die bei Schießereien ums Leben gekommen seien. „Das habe ich in meinen 41 Jahren hier noch nie erlebt."

Viele persönliche Rechnungen werden mit der Pistole beglichen

Doch das Banden-Unwesen allein reicht nicht aus, um die Gewaltwelle zu erklären. Schließlich gab es in Chicago schon Gangs, als Al Capone in den 20er Jahren in die Stadt kam. Einige Beobachter sehen in den sozialen Medien einen Faktor, der die Gewalt explodieren lässt: Viele persönliche Rechnungen werden in Chicago mit der Pistole beglichen. Nach einer Untersuchung der Universität von Chicago werden 91 Prozent der Morde in der Stadt mit Schusswaffen verübt; in Los Angeles sind es 72 Prozent, und in New York 60 Prozent.

Dabei gelten in Chicago und in Illinois relativ strenge Waffengesetze. Das Problem ist nur, dass viele Waffen aus benachbarten Bundesstaaten in die Gegend kommen. Denn für viele Menschen in den Problemzonen der Stadt sind Waffen wichtig zum Überleben. Es gibt wenig Jobs und kaum Zukunftsperspektiven. Die Arbeitslosigkeit unter den Afro-Amerikanern in Chicago liegt bei 14,2 Prozent – das ist fast doppelt so hoch wie der landesweite Durchschnitt von rund acht Prozent für diese Bevölkerungsgruppe. Und auch dieser ist weit höher als die allgemeine US-Arbeitslosenrate von derzeit 4,9 Prozent.

Bei vielen Polizeibeamten wächst der Frust

Verschlimmert wird die Lage durch eine Polizei-Misere. Seit ein Beamter im Oktober 2014 einen jungen Schwarzen mit 16 Schüssen regelrecht hinrichtete, stehen die Sicherheitskräfte bei vielen unter Generalverdacht. Das „Wall Street Journal“ notierte, die Gewalt habe in dem Maß zugenommen, wie sich die Polizei unter dem Eindruck der öffentlichen Kritik von den Straßen zurückgezogen habe.

Gleichzeitig wächst bei vielen Beamten der Frust. Wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen könnten Verdächtige bei illegalem Waffenbesitz lediglich wenige Tage festgehalten werden, klagen sie. Bürgermeister Rahm Emmanuel, ein früherer enger Berater von Barack Obama, will die Polizeitruppe um tausend auf 13000 Beamte verstärken, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Die bei der Gewaltbekämpfung relativ erfolgreichen Polizeibehörden von New York und Los Angeles werden nach ihren Erfahrung gefragt.

Ob das die Wende bringt? Zuallererst müsse bei den Menschen in der Stadt wieder die Hoffnung auf ein besseres Leben einkehren, ist William Sampson von der DePaul-Universität in Chicago überzeugt. „Wenn du ein Nichts bist, hast du auch nichts zu verlieren", sagte Sampson der „Chicago Tribune“ kurz vor Jahreswechsel. „Nur mit einer Pistole kannst du jemand werden.“

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