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Abflug in ein fernes Land.

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Kolumne von Pascale Hugues: Reisen ist kein Akt der Befreiung mehr

Man weiß ja nie - das ist die Devise der Sicherheitswirtschaft. Auch wenn es ums Reisen geht. Da werden alle Eventualitäten durchgespielt. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Pascale Hugues

Damit wollen Sie verreisen? Der Verkäufer des Outdoorhandels blickt vorwurfsvoll meine Schuhe an. Purer Leichtsinn! Sie kommen niemals lebendig zurück!, sagen seine Augen. Er zählt die lange Liste von Katastrophen auf, die mir auf dem Fußpfad über die Hügel von Kerala, auf den ich mich gerade vorbereite, zustoßen könnten: Verstauchte Knöchel, eine abgelöste Sohle, dutzende Kilometer vom nächsten Dorf entfernt, und natürlich: abgeschnürte Füße wegen zu steifem Leder.

Schuhe sind ein Fetisch par excellence. Oft sind es die ältesten, hässlichsten, meistgenutzten, die einen privilegierten Platz in unseren Herzen einnehmen. Meine Schuhe sind nicht mehr ganz neu, muss ich zugeben. Gerade mal 40 Jahre alt. Der elsässische Schuhmacher, der sie per Hand angefertigt hat, ist bestimmt nicht mehr von dieser Welt. Das Fußbett umspielt exakt und treu die Form meiner Zehen. Wir sind alte Kompagnons, wir haben uns aneinander gewöhnt, haben zusammen vieler Herren Länder gesehen, die Alpen, Nepal, Afrika, Brandenburg.

Ich liebe ihr altes Leder, gegerbt wie ein furchiges Gesicht, die Schnürriemen in ausgewaschenem rot, die Sohle, in die sich die Erinnerungen an all unsere gemeinsamen Wege eingekerbt haben. Wir sind ein altes Ehepaar, untrennbar. Niemals hätte ich mir auch nur träumen lassen, ohne sie zu verreisen. Sie in ihrem Schrank in Berlin zurückzulassen, wäre Verrat.

Das Risiko des Unbekannten

Der Outdoorhändler aber lässt sich weder vom Vintagecharme bezirzen, noch von meiner sentimentalen Seele. Die Technik hat seit ihrer vorsintflutlichen Geburt Fortschritte gemacht. Mit diesen Tretern zu wandern, ist wie Skifahren auf Holzplanken oder Feuer machen mit einem Stein. Der Verkäufer preist die Vorzüge der neuen Produkte an: Anschmiegsameres Material, atmungsaktive Stoffe, aerodynamische Formen, was weiß ich... Er spricht in so einem verkünstelten Jargon, dass ich kein Wort verstehe. Und zu den Schuhen gehören natürlich Socken! In solch banalen Baumwollsocken über die Erde gehen, ist ein weiterer, unverzeihlicher Leichtsinn! Ich brauche magische Fasen, die den Schweiß erst sammeln und dann abführen.

Es gab mal eine Zeit, da war verreisen ein Akt der Befreiung. Man ließ das Halseisen der Gewohnheiten zurück, all die sperrigen Besitztümer und Schrankinhalte, die einen auf dem Boden nageln und, auf eine seltsame Weise, davon abhalten, so zu leben, wie man es sich wünscht. Für eine Reise öffnete man eine Tür, dahinter erschien die große Welt. Man fühlte, wie Flügel wachsen. Man schlüpfte in die erstbesten Socken, zog ein Paar gemütliche Schuhe drüber und los ging’s, zum Abenteuer, Nase im Wind, Blick scharf. Und ja, man ging auch ein kleines Risiko ein. Das Risiko des Unbekannten.

Man weiß ja nie - das ist die Devise der Sicherheitswirtschaft

Heute zu verreisen heißt erst einmal: Alle Eventualitäten durchdenken. Die Outdoormagazine spielen subtil mit dieser Angst. Für tagsüber gibt es Hemden, die UV-Strahlen blocken und für abends eines, das Mücken fernhält. Dazu noch ein Netz. Und ein Spray natürlich. Ein Überzug für den Rucksack, Kompressionssack für die Kleidung, wasserdichte Täschchen für Geld und Reisepass, ein kleines Vorhängeschlösschen für das kleine Täschchen, dass darin auch alles sicher ist. Und dazu tausend Gadgets und Pfadfinder-Schnickschnack. Und wer verkauft die Karawane, die das alles transportiert? Die Maultiere? Stellen Sie sich vor, Phileas Fogg wäre mit dieser Ladung auf Weltreise gegangen. Er hätte seine Wette nie gewonnen.

Man weiß ja nie. Die Devise der Sicherheitswirtschaft. Dieser Ausflug ins Outdoorgeschäft scheint mir eine Allegorie auf das kommende Jahr zu sein. Die Welt wackelt. Keiner weiß, wie die Zukunft aussieht. Und überall verkaufen Populisten und Gewissheiten, magische Schuhe, die alle Unwägbarkeiten des Wegs vorhersehen sollen. Daher der Vorsatz: Die alten Treter sind ausgelatscht. Die neuen braucht keiner. Gehen wir lieber leichten Fußes in dieses Neue Jahr.

Joyeux Noël!

Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl.

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