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Jan Ullrich im Jahr 2007 bei einer Pressekonferenz in Hamburg, auf der er seinen Rücktritt bekanntgab.

© imago/Oliver Hardt

Jan Ullrich: Die Ursachen für seine Probleme: Wieder vor dem Nichts

Nicht wenige Sportler geraten nach ihrer Karriere ins Straucheln. Doch Jan Ullrichs Probleme könnten auch mit seiner Dopingvergangenheit zusammenhängen.

Als ein Reporter vor fast zehn Jahren in Jan Ullrichs damaliger Schweizer Wahlheimat recherchierte, erhielt er von einem Einheimischen einen Tipp. Viele Bewohner Scherzingens hatten sich mit Auskünften über den ehemaligen deutschen Radsportstar stark zurückgehalten, dieser eine aber verwies immerhin an jemanden, der mehr über ehemaligen Radsportstar wissen könnte. Er sagte: „Fragen Sie doch mal den Weinhändler.“

Jan Ullrich hat möglicherweise schon seit längerer Zeit Alkohol- und Drogenprobleme. Das legen auch seine Autounfälle unter Alkoholeinfluss und die Ereignisse der vergangenen Tage nahe. Am Wochenende ist der erste und einzige deutsche Sieger der Tour de France in eine Entzugsklinik in Hessen eingeliefert worden. Zuvor soll er in einem stark berauschten Zustand in einem Luxushotel in Frankfurt am Main eine Prostituierte angriffen und gewürgt haben. Die Prostituierte soll im Hotelzimmer weißes Pulver gesehen haben, „es sah für mich aus wie Kokain“, sagte ein Vertrauter von ihr der „Bild“-Zeitung. Die Polizei nahm Ullrich zwischenzeitlich fest und ermittelt wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung gegen ihn.

Mit seinen Abhängigkeiten dürfte Ullrich auch ein Opfer des Dopingsystems im Radsport geworden sein, das zu seiner aktiven Zeit im Spitzen-Radrennsport üblich war. Er selber gab später zwar nur Eigenblut-Doping zu und will in seiner Karriere nie jemanden betrogen haben. Doch der Internationale Sportgerichtshof (Cas) hat ihn deswegen 2012 schuldig gesprochen. Aufgrund der verbreiteten Dopingpraxis in der Branche sagte der ehemalige spanische Radprofi Jesus Manzano 2007 in einem „Stern“-Interview: „Der Radsport ist die Vorstufe zur Drogenabhängigkeit.“

Das unterstreichen auch einige tragische Schicksale des Radsports. Der Italiener Marco Pantani starb 2004 an einer Überdosis Kokain – möglicherweise hat der Mann, der 1998, ein Jahr nach Jan Ullrich, die Tour de France gewann, Selbstmord begangen. Auch der Spanier Jose Maria Jiminez, der mit 32 Jahren in einer Psychiatrie an einem Herzinfarkt starb, oder der Belgier Frank Vandenbroucke, der mit 34 an einer Lungenembolie starb, hatten Drogen genommen.

Jan Ullrich soll auch unter Verfolgungswahn gelitten haben

Der Zusammenhang zwischen Doping und Suchtverhalten ist wissenschaftlich noch nicht genauer untersucht worden, wie der Nürnberger Anti-Doping-Experte Fritz Sörgel berichtet. Doch zahlreiche Einzelfälle deuten darauf hin. „Dopingmittel sind Drogenstoffe“, erklärt Sörgel, „Arzneimittel, Dopingmittel, Drogenstoffe, das ist ein Kontinuum“. Seiner Auskunft nach gibt es Indizien, dass Jan Ullrich schon frühzeitig in seiner Karriere Koffein in höheren Dosen eingenommen haben soll. „Das Zeug kann der Einstieg sein“, sagt der Experte. Der Körper werde später Stück für Stück abhängiger von Mitteln, die von außen zugeführt werden.

Doch auch der psychische Zustand Ullrichs scheint äußerst labil zu sein. Der Radstar soll wiederholt unter Verfolgungswahn gelitten haben. Medienberichten zufolge schoss er in seiner Villa in Scherzingen gar auf den Fernseher, wenn darin Personen auftauchten, von denen er sich bedroht fühlte. Nach dem aktuellen Vorfall in Frankfurt sprachen die Ermittler davon, dass Ullrichs seelischer und körperlicher Zustand eine Gefahr für ihn selbst und für andere sei, und wiesen ihn kurzzeitig in eine Psychiatrie im Taunus ein.

Immer wieder entgleitet Spitzensportlern nach dem Karriereende ihr Leben. Das Bild von Ex-Tennisstar Boris Becker war in den vergangenen Jahren durch Skandale und Affären geprägt, momentan läuft ein Insolvenzverfahren gegen ihn. Der ehemalige US-amerikanische Schwergewichtsboxer Mike Tyson fiel nach seinem Karriereende durch Alkoholprobleme auf. Und einer der besten Fußballspieler aller Zeiten, Diego Maradona, fiel gegen Ende und nach seiner Karriere als aktiver Sportler durch Doping- und Drogeneskapaden auf.

Warum sind einige Ex-Sportler nach ihrem Karriereende nicht in der Lage ihr Leben selbstständig zu gestalten? Steffen Kirchner, einer der führenden Sportexperten und Mentaltrainer in Deutschland, sagt jeder Fall sei individuell zu bewerten. Doch er erkennt auch Muster. So fördere der Leistungssport gezielt nur jene Charaktereigenschaften der Sportler, die ihren Ergebnissen zugutekommen. „Viele Spitzensportler bilden dabei eine Art Inselbegabung heraus, hinter der sich oft eine Inkompetenz in der Lebensführung verberge.“

Einer Studie von Wissenschaftlern der Universität Dublin über Burnout im Spitzensport zufolge, setzt sich die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die nach einem Karriereende gefragt wäre, aus drei Grundbedürfnissen zusammen: Stabile soziale Beziehungen, die Autonomie der Persönlichkeit und dem Bewusstsein der eigenen Kompetenz.

Während der aktiven Karriere sichert das professionelle Umfeld die Sportler ab. Doch es ist oft eine Scheinwelt. Die meisten sozialen Kontakte bestehen zu Teamkollegen und Funktionären, der durchgetaktete Tagesablauf lässt kaum Raum für eigene Entscheidungen. Wenn dieses Korsett nach der Karriere wegbreche, führt das Kirchner zufolge oft in eine tiefe Krise. „Wer nur mit der Karriereplanung beschäftigt war, hat keine weitere Vision eines Lebenssinns.“ Sinnstiftung brauche aber eine Begleitung. Gerade bei einer frühzeitigen Vorsorge seien Spitzensportler allerdings oft alleingelassen. Kirchner plädiert darum dafür, bereits im Jugendsport entsprechende Kompetenzen an Trainer und Aktive zu vermitteln.

Im Fall Ullrich kam das Karriereende weitgehend überraschend. Am Morgen des 30. Juni 2006, einen Tag vor Beginn der Tour der France, wurde er im Zuge der Ermittlungen zum Dopingskandal Fuentes vom Wettkampf ausgeschlossen. Herausgerissen aus dem Lebensinhalt Profiradsport. Noch im Juni hatte er die Tour de Suisse gewonnen, zwei Jahre zuvor war er von deutschen Journalisten zum „Sportler des Jahres“ gewählt worden. Nun stand er vor dem Nichts.

Zwölf Jahre später ist Jan Ullrich womöglich nicht wirklich weiter gekommen. In einer Entzugsklinik will er nun von jenen Mitteln loskommen, an die sich Kopf und Körper so lange gewöhnt haben. Zu den Erfolgschancen sagt der Anti-Doping-Experte Fritz Sörgel: „Das ist nur schwer vorhersehbar.“

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