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Unter Beobachtung: Polizisten riegeln die Hauptstraße in Bnei Brak ab, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern.

© imago images/Xinhua

Israels Corona-Risikogruppe: Der Unmut vieler Israelis über ungehorsame Ultraorthodoxe wächst

Ultraorthodoxe missachten Corona-Richtlinien und sind stärker von Infektionen betroffen. Der Unmut vieler Israelis über die Strenggläubigen wird größer.

Auf den ersten Blick erinnert wenig daran, dass es sich bei Bnei Brak um einen der schlimmsten Corona-Hotspots Israels handelt. Zwar sind die Straßen belebt wie üblich in dieser eng bebauten Stadt bei Tel Aviv, die fast ausschließlich von Ultraorthodoxen bewohnt wird: Junge Frauen in langen Röcken, das Haar unter Tüchern oder Perücken verborgen, schieben Kinderwagen durch die Straßen; bärtige Männer, trotz noch immer brennender Sonne konform gekleidet in Hut und Jackett, sprechen beim Gehen in altmodische Handys oder stehen in Grüppchen zusammen. Doch alle Erwachsenen auf der Straße tragen die vorgeschriebene Maske. Und die meisten Geschäfte sind, wie die Regeln es wollen, geschlossen.

Bis Anfang vergangener Woche jedoch standen Polizisten an den Zufahrten zur Stadt, um passierende Autofahrer zu kontrollieren. Denn bis dahin unterlag Bnei Brak wegen der hohen Infektionszahlen besonders strengen Ausgangssperren. Jeder siebte Bewohner der Stadt trägt bereits Covid-19-Antikörper in sich, haben Gesundheitsexperten von der Tel Aviver Universität festgestellt. Und damit ist Bnei Brak keine Ausnahme: Landesweit grassiert das Virus in ultraorthodoxen Städten viel stärker als andernorts. 40 Prozent der Neuinfizierten gehören nach Angaben des staatlichen Corona-Beauftragen Ronni Gamzu der frommen Minderheit an. Dabei machen die Strenggläubigen, in Israel Haredim genannt, nur zwölf Prozent der Bevölkerung aus.[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können ]

Schon seit Beginn der Pandemie sind die Ultraorthodoxen unter den Erkrankten überrepräsentiert. Doch je länger die Krise sich hinzieht, desto schärfer fokussiert sich der Blick vieler Bürger und Medien auf die Haredim. Während des einmonatigen Lockdowns, der gerade erst zu Ende ging, druckten israelische Zeitungen Fotos von verbotenen Gebeten in ultraorthodoxen Synagogen mit Hunderten Teilnehmern. Auf sozialen Medien kursieren Videos von maskenlosen Haredim, die sich Straßenschlachten mit Polizisten liefern. Und während die meisten israelischen Eltern sich mühen, ihre Kinder zu Hause zu beschäftigen, ordnete kürzlich ein prominenter ultraorthodoxer Rabbiner an, religiöse Jungenschulen wieder zu öffnen – entgegen den staatlichen Richtlinien. Die Exekutive wirkt angesichts der gut dokumentierten Verstöße irritierend machtlos. „Die Durchsetzung (der Regeln) ist derzeit nicht sehr gut“, gab Gesundheitsminister Yuli Edelstein diese Woche in einem Interview zu.

Im Angesicht der Krise wandelt sich leiser Groll in laute Wut

Der Konflikt zwischen Mehrheitsgesellschaft und frommer Minderheit schwelt seit Jahren: Säkulare Israelis klagen, dass die meisten Haredim von der Wehrpflicht befreit sind und viele der Männer ihr Leben dem Torastudium widmen, statt zu arbeiten. Doch nun, im Angesicht der Krise, verwandelt sich leiser Groll in laute Wut. „Jahrelang wurde ihnen beigebracht, alles zu nehmen und nichts zu geben“, schimpfte kürzlich der Direktor einer Klinik in Bnei Brak im Radio über die Haredim. Die Minderheit, fuhr er fort, „tötet Menschen“. Nach einer Empörungswelle trat er von seinem Posten zurück. Kommentare in sozialen Medien legen nahe, dass er manch einem aus der Seele sprach.

Viele Ultraorthodoxe dagegen fühlen sich unverschuldet in die Rolle des Sündenbocks gedrängt. „Der Säkulare meint, der Haredi sei schuld am Tod seiner Großmutter“, sagt Dov Eichler, ultraorthodoxer Journalist bei der öffentlichen Rundfunkanstalt Kan und Sohn eines Knessetabgeordneten. „Aus Sicht der Haredim ist das nichts Neues, sie sagen: Schon in Europa wurden wir für Krankheiten verantwortlich gemacht.“

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Tatsächlich ist die Lage komplexer, als breitflächige Vorwürfe nahelegen. Auf den Straßen Bnei Braks tragen deutlich mehr Menschen Masken als an der Strandpromenade Tel Avivs. Zudem gibt es neben individuellem Fehlverhalten eine Reihe äußerer Faktoren, die die hohe Infiziertenzahl unter den Frommen erklären. So sind ultraorthodoxe Familien deutlich größer und leben auf engerem Raum zusammen als die israelische Durchschnittsfamilie. „Wenn sich in einer ultraorthodoxen Familie mit fünf, sechs Kindern jemand infiziert, dann steckt er in der Familie viel mehr Menschen an als eine säkulare Person“, sagt Tali Parkash, eine ultraorthodoxe Journalistin, die selbst in Bnei Brak aufgewachsen ist. Zudem sei es nur eine Minderheit, „20 bis 30 Prozent“ der Gemeinde, die die Regeln systematisch missachte. Doch ihr Anteil wachse, denn: „Viele haben das Gefühl, dass es für die Richtlinien politische Gründe gibt, nicht nur professionelle.“

Immerhin in ihrem Misstrauen gegenüber staatlichen Beschlüssen sind die meisten Israelis sich einig. Über zwei Drittel haben kein Vertrauen mehr in das Pandemiemanagement des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, zeigt eine Umfrage des Israel Democracy Institute, eines liberalen Thinktanks.

Die Frustration über eine zerstrittene und oft erratisch agierende Regierung scheint zu den wenigen Dingen zu gehören, die Israelis über alle gesellschaftlichen Gräben hinweg in diesen Tagen noch eint.

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