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Die Familien wurden zu einer Art Zwangsgemeinschaft verpflichtet.

© imago/photothek

In die falsche Wiege gelegt: Bei der Geburt vertauscht – und heute unzertrennlich

Die Sizilianerinnen Caterina und Melissa wurden nach der Entbindung in die falsche Wiege gelegt. Der Irrtum fiel erst nach drei Jahren auf.

Es war ein warmer Tag im Spätherbst gewesen, als Marinella Alagna im Fischerstädtchen Mazara del Vallo an der sizilianischen Westküste wie gewohnt zum Kinderhort ging, um ihre beiden älteren Töchter Lea und Perla abzuholen. Als sie ankam, stand dort bereits eine andere Mutter, die ein dreijähriges Mädchen an der Hand hielt.

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Marinella stockte der Atem: Das fremde Kind ähnelte ihrer Lea so sehr, dass es, wäre es etwas älter gewesen, deren Zwillingsschwester hätte sein können. „Als ich das Mädchen sah, dachte ich sofort: Das ist meine Tochter“, berichtete Marinella der Wochenzeitschrift „Panorama“. Noch etwas fiel ihr auf: Wie sehr ihre dritte und jüngste Tochter Melissa, die mit ihrem Papa Francesco zu Hause auf sie wartete, der fremden Mutter ähnelte.

Was Marinella als Mutter instinktiv ahnte, aber damals noch nicht wissen konnte: Caterina – so hieß das fremde Mädchen – war tatsächlich ihre leibliche Tochter. Und ihre jüngste Tochter Melissa war in Wahrheit die Tochter von Gisella Foderà, der fremden Frau im Kinderhort.

Marinella Alagna und Gisella Foderà hatten die beiden Mädchen in der Neujahrsnacht 1998 zur Welt gebracht, im Krankenhaus von Mazara del Vallo, im Abstand von nur 15 Minuten. Möglicherweise hatten zum Jahreswechsel auf der Geburtsabteilung die Prosecco-Korken geknallt – jedenfalls passierte es, dass Caterina vom Klinikpersonal irrtümlich in die Wiege von Melissa gelegt wurde, und Melissa in die Wiege von Caterina. Und so kehrten die beiden Mütter einige Tage später mit den falschen Babys nach Hause zurück.

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Ein DNA-Test bestätigt den Verdacht der Eltern

Die schicksalshafte Begegnung im Kinderhort war am 29. September 2000 erfolgt. Die beiden Familien setzten sich danach zusammen: Die Unruhe, die Zweifel waren einfach zu groß. Gemeinsam entschlossen sie sich zu einem DNA-Test. Dieser bestätigte den Verdacht, dass Caterina und Melissa nach ihrer Geburt vertauscht worden waren.

Doch was tut man in einer solchen Situation? Wie erklärt man zwei dreijährigen Mädchen, dass die „Mamma“ gar nicht die „Mamma“ ist und dass sie nun zu ihrer „richtigen“ Mutter kommen? Und wie verkraftet es eine Mutter, dass das kleine Mädchen, das sie an ihrer Brust ernährt und das sie bis vor wenigen Tagen für ihr eigenes Kind gehalten hat, an eine andere Frau weggegeben wird und es danach vielleicht nie mehr „Mamma“ zu ihr sagen wird?

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Einige Wochen nach dem DNA-Test verfügte das Jugendgericht von Palermo das Unvermeidliche: Caterina und Melissa kehrten zu ihren leiblichen Eltern zurück. Um die Mädchen mit dem Wechsel möglichst wenig zu traumatisieren, ordnete der Richter zusammen mit einem Gerichtspsychologen an, dass der Kontakt zu den bisherigen Müttern möglichst eng bleiben solle: Die beiden Familien, die sich zuvor nicht gekannt hatten, wurden zu einer Art Zwangsgemeinschaft verpflichtet.

Der verordnete, fast tägliche Kontakt war zunächst nicht einfach gewesen, besonders für die Mütter: „Zu Beginn hassten wir uns: Jede von uns betrachtete die andere Mutter als jene, die ihr das Kind weggenommen hat“, erzählt Gisella Foderà. Caterina und Melissa, die heute 23 Jahre alt sind, haben dagegen keine Erinnerungen an die Trennung von der ersten Mutter. „Die Angst und der Schmerz betrafen nur unsere Mütter“, betont Caterina. Die Eltern hätten sie gemeinsam aufwachsen lassen: „Wir haben uns nicht nach dem Grund dafür gefragt: Für uns war es einfach so, als wären wir eine große Gruppe von Freunden, die alle Feste zusammen feierten und die sich gernhaben.“

Die Zwangsgemeinschaft verbindet die Frauen bis heute

Etwas belastend und verwirrend war das Chaos mit den Namen: Der Jugendrichter hatte entschieden, dass nicht nur der Familienname, sondern auch der Vorname der Mädchen gewechselt werden müsse. Doch die Eltern entschieden anders: Caterina blieb Caterina und Melissa blieb Melissa. Auf den Personalausweisen steht bis heute der andere Vorname.

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Das gemeinsame Schicksal, die Verwirrung um ihre Herkunft und ihre Namen, aber auch die richterlich verordnete Zwangsgemeinschaft verbindet die beiden jungen Frauen bis heute wie eine unsichtbare Nabelschnur. Sie saßen während der gesamten Schulzeit auf der gleichen Schulbank, feierten alle Geburtstage zusammen, und heute studieren sie an der gleichen Universität Pädagogik. Sie fühlen sich wie Schwestern – oder vielmehr wie Zwillingsschwestern: „Wir sind ja am gleichen Tag geboren und wir waren immer zusammen. In allen meinen Erinnerungen ist immer auch Caterina präsent“, betont Melissa.

Den beiden Müttern geht es inzwischen ähnlich: „Gisella empfinde ich heute als meine Schwester. Ich habe drei eigene Töchter und einen Teil ihrer Tochter – und sie hat zwei eigene Töchter und einen Teil der meinen“, versucht Marinella Alagna ihre Gefühle zu beschreiben. Aus der einstigen Zwangsgemeinschaft ist eine Großfamilie geworden.

Die Geschichte von Caterina und Melissa, die dem breiten Publikum erst in diesen Tagen bekannt geworden ist, bewegt ganz Italien. Sie ist vom Staatssender Rai unter dem Titel „Sorelle per sempre“ („Schwestern für immer) in einer mehrteiligen Doku-Fiction verfilmt worden; am Donnerstagabend war die Ausstrahlung der ersten Folge geplant. In Kürze soll auch ein Buch über das Schicksal der Frauen erscheinen – ein Platz auf der Bestsellerliste scheint gewiss.

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