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Panorama: Im Dorf des Kannibalen

Keiner kann die Tat fassen – jetzt beginnt der Prozess gegen den „Menschenfresser“

Das rotweiße Band ist immer noch da. Nur an manchen Stellen ist es gerissen und gibt den Zugang zu dem verwilderten Garten frei, wo die Polizei ihren schrecklichen Fund machte. Immer wieder kommt mal einer hierher und sucht zwischen den Brennnesseln nach Spuren der Untat des einstigen Hausherren Armin Meiwes – des so genannten „Menschenfressers von Rotenburg“, dem ab morgen in Kassel der Prozess gemacht wird. Ein Prozess, der von der in- und ausländischen Presse verfolgt werden wird, weil er so einzigartig ist wie sein Gegenstand. Im Dezember 2002, kurz nach der Entdeckung des Unsäglichen, sind sie sogar mit einem Hubschrauber über dem alten Gutshaus gekreist, ein Hubschrauber voll mit Journalisten. Das fand manch einer hier dann doch ein bisschen übertrieben. Aber so übertrieben war es vielleicht doch wieder nicht, angesichts der ganzen Fassungslosigkeit, unter der vor allem die Nachbarn von Armin Meiwes litten und bis heute leiden. Die Nachbarn, die nichts geahnt haben und ihre Fassungslosigkeit mitunter in Witzen zum Ausdruck bringen, die dann wieder andere fassungslos machen.

Wüstefeld heißt das kleine Dorf, in dem diese Tat geschah, die im vergangenen Jahr das Weihnachtsfest in der ganzen Gegend überschattete. Ein Ortsteil des osthessischen Rotenburgs, einsam gelegen zwischen Hügeln, Äckern und Wäldern. 150 Menschen leben dort und im benachbarten Atzelrode vor allem von der Landwirtschaft. Die sechs Familien in Wüstefeld litten besonders, die unglaubliche Tat quäle sie immer noch sehr, sagt Christine Berger, die Frau des Pfarrers. Die Menschen fragten sich immer wieder, wie „der Armin“ das bloß machen konnte. „Der Armin“, der oft mit am Tisch saß und so harmlos wirkte. Bei der Frage „Und ihr habt nichts bemerkt?“ komme immer wieder dieselbe Fassungslosigkeit hoch. Nein, sie haben nichts bemerkt. Sonst hätten sie doch nicht ihre Kinder bei ihm ein- und ausgehen lassen. „Hier fragt sich doch jeder, ob er dabei war, wenn der Armin Menschenfleisch auf den Grill gelegt hat“, sagt ein Wüstefelder, der nicht beim Namen genannt werden will.

Es war der Morgen des 10. Dezember 2002, als die Polizei im Ort vorfuhr und vor dem Haus von Armin Meiwes hielt. Einen Tag später erfuhren die Wüstefelder den Grund dafür, die meisten aus dem Radio. Die Beamten hatten den 42 Jahre alten Computertechniker verhört und das Haus durchsucht, in dem er seit dem Tod seiner Mutter alleine lebte, und Meiwes hatte gestanden.

Eine Kontaktanzeige im Internet hatte ihn verraten. Unter dem Namen „Metzgermeister Franky“ hatte er einen jungen Mann gesucht, den er „schlachten und essen“ könne. Er suchte, aber er war auch schon einmal fündig geworden. Das gestand der 41-Jährige an diesem 10. Dezember der Polizei. Er gab an, im März 2001 in seinem Haus vor laufender Kamera den 43 Jahre alten Ingenieur Bernd Jürgen Brandes aus Berlin – angeblich mit dessen vollem Einverständnis – getötet und Teile von ihm gegessen zu haben. Meiwes teilte sich das Menschenfleisch ein, die Polizisten fanden es, portioniert in Plastiktüten, in seiner Gefriertruhe.

Die Nachricht trieb die Wüstefelder auf die Straße. Hast du gehört, der Armin hat einen gegessen, erzählten sie sich gegenseitig. Doch als wenig später die Journalisten auftauchten, machte nur einer den Mund auf – das war der Landwirt Manfred Stück.

Stück, 41 Jahre alt, wurde schon wenige Stunden, nachdem sie im Garten von Armin Meiwes Leichenteile gefunden hatten, vom Sender RTL unter Vertrag genommen. Stück weiß, was „der Armin“ für einer war – nämlich vor allem ein normaler Junge, mit dem er oft gespielt habe. Als sie zehn Jahren alt waren, ritten sie oft gemeinsam auf ihren Ponys aus. Doch im Mofa-Alter brach der enge Kontakt dann ab – Meiwes hatte kein Mofa. Auch den Tatort kennt Manfred Stück gut. Das alte Fachwerkhaus ist das Geburtshaus seines Vaters. Stück lebte dort bis Mitte der 60er Jahre mit seiner Mutter.

Stück hatte eine merkwürdige Art mit der Tat seines einstigen Freundes umzugehen. Im Juli lenkte er beim Umzug im fünf Kilometer entfernten Rotenburg einen „Kannibalen“-Festwagen mit Biertisch, Steingrill und vier Plakaten mit aufgemalten Blutstropfen und Sprüchen wie „Wir haben euch zum Fressen gern“. Während der Parade grillte er Bratwürstchen, die er gratis an die Zuschauer verteilte. Die hätten ihm die Menschen aus den Händen gerissen, sagt Stück.

Doch im Laufe der Monate hat sich Stücks Haltung verändert: Heute reißt er keine Witze mehr über das Verbrechen. Jetzt, kurz vor dem Prozess, will er vor allem eines – dass Armin Meiwes nie wieder zurückkommt. Dass Meiwes schon mit zwölf kannibalische Fantasien gehabt habe, wie dieser in einem Interview sagte, hat Manfred Stück dann doch sehr verstört. Meiwes gehöre nach der Haft in eine geschlossene Anstalt, sagt er und, ein ganzer Lokalpatriot: „Der sieht unsere Landschaft hier nicht wieder.“ Stück zählt auf den Richter, doch vielleicht wird die Verurteilung von Meiwes schwierig – Kannibalismus ist in Deutschland kein Straftatbestand.

Auch der Bürgermeister Manfred Fehr will jetzt, dass der Trubel um die „Kannibalenstadt Rotenburg“ aufhört. Er ist ein gemütlicher Mann, mit grauem Vollbart und Rotenburger Dialekt. Er kenne das Spiel, sagt er – „Schlagzeile sei Schlagzeile, ob gut oder schlecht“. „Na ja, jetzt wissen die Deutschen zumindest, dass es nicht nur ein Rothenburg ob der Tauber, sondern auch eins an der Fulda gibt.“ Fehr weiß, dass der Prozess im 60 Kilometer entfernten Kassel die Sache wieder aufwühlen wird, doch einen Presseansturm wie im vergangenen Dezember erwartet er nicht. Schließlich sind die Fotos von Rotenburg, Wüstefeld und dem Haus des Täters geschossen. Was die Rotenburger zu dem Attribut „Kannibalenstadt“ sagen? Fehr zupft sich am Bart. Er kenne niemanden, der darunter leide. Diese Tat hätte doch überall passieren können.

Auch das verlotterte Anwesen von Armin Meiwes macht Manfred Fehr keine Sorgen. Bisher sei kein makaberer Wallfahrtsort daraus geworden, und Fehr geht davon aus, dass das auch so bleibt. Und wenn doch nicht: Das über 100 Jahre alte marode Herrenhaus abzureißen käme auch dann nicht in Frage – es steht unter Denkmalschutz.

Aber einmal verlor auch der gemütliche Bürgermeister seine Fassung. Das war am Heiligen Abend vor einem Jahr. Um 20 Uhr klingelte sein Telefon – es war die Kripo, die ihn aufforderte, das Grundstück von Armin Meiwes ab sofort beleuchten zu lassen, da der nächtliche Wachschutz nun wegfalle. „Das hätten sich die Verantwortlichen ja wohl auch früher einfallen lassen können.“ Sein Ton ist scharf. Dass er seine Mitarbeiter ausgerechnet an Weihnachten vor die Tür jagen musste, hat ihn geärgert. Sie hätten schon genug unter der Tat gelitten und sie seien schließlich keine hartgesottenen Kriminalbeamten. Ein Mitarbeiter vom Bauamt hatte am 11. Dezember 2002 in Armin Meiwes Garten mit der Baggerschaufel Kopf und Skelett des Opfers aus dem Erdreich gehebelt.

Es gibt im Ort aber auch den Impuls, das Grauenhafte herunterzuspielen. Eine Rotenburgerin, die ihren Namen „wegen des Geschäfts“ nicht nennen will, hält Meiwes Tat im Vergleich zu vielen anderen Missständen der Gesellschaft für „gar nicht so schrecklich“. Kindermörder oder Morde in Familien findet sie abstoßender. „Sie sind bloß nicht so spektakulär wie dieser Fall.“ Ein etwa 25-jähriger Mann, der anonym bleiben will und mit am Tisch sitzt, stimmt zu. Armin Meiwes habe eben vor allem gegen Moralvorstellungen verstoßen.

Horst D., auch aus Rotenburg, 62 Jahre alt und Taxifahrer, kann dagegen immer noch nicht fassen, was diese „zwei studierten Männer“ da getan haben. Mord oder nicht – er wisse wirklich nicht, was er von dem Fall halten soll. Gleich am 11. Dezember ist D. zum Tatort geradelt, „um mal zu gucken“. Das haben vor einem Jahr viele getan: erst auf den Rotenburger Weihnachtsmarkt und dann ein Abstecher zum Kannibalenhaus.

Corina Niebuhr

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