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Besucher der Sperrzone fotografieren den von einem Sarkophag ummantelten Reaktor von Tschernobyl.

© Genya SAVILOV/AFP

Hype um HBO-Serie: Wie ein Fernsehdrama Tschernobyl neue Aufmerksamkeit bringt

TV-Serie mit Folgen: Was Moskau damals verhindern wollte, passiert nun – Menschen interessieren sich für die größte Reaktorkatastrophe der Geschichte.

Von Oliver Bilger

Rostende Fahrzeugwracks und verfallende Wohnungen, in denen manchmal noch Reste eilig zurückgelassener Habseligkeiten zu finden sind. Ein altes Riesenrad, das sich seit 33 Jahren nicht mehr dreht. Prypjat bietet Schauer-Kulisse für Besucher aus aller Welt, die in die Geisterstadt im Norden der Ukraine reisen – Katastrophentouristen.

Vor der Evakuierung war die Stadt nahe der Grenze zu Weißrussland Heimat von Arbeitern im Atomkraftwerk Tschernobyl und ihren Familien. Seit Jahren ist sie Ziel für Abenteuerlustige. Doch seit Kurzem steigt die Zahl der Reisenden. Grund ist die Fernsehserie „Chernobyl“, die bei HBO und Sky zu sehen ist: ein fiktionales Drama, das mit Details und großer Faktentreue das Unglück ins Wohnzimmer holt. Und Menschen neugierig macht auf die Ereignisse vom 26. April 1986.

Damals führte ein missglückter Test zur Explosion in Reaktorblock Nummer 4 – und zum schwersten Nuklearunfall der Geschichte. Dutzende Menschen starben kurz nach dem Unglück an den Folgen akuter Strahlenkrankheit. Sehr viel mehr erkrankten später an Krebs, viele Tausend starben. Die radioaktive Wolke verstrahlte große Gebiete im heutigen Weißrussland, in der Ukraine und Russland. Zehntausende Menschen im Umkreis von knapp 30 Kilometern mussten ihre Häuser für immer verlassen.

Von Kiew geht es heute mit organisierten Gruppenausflügen in Sperrzone und Geisterstadt. Um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Besucherzahlen im Mai, sagte Sergej Iwantschuk der Nachrichtenagentur Reuters. Die Buchungen für Juni, Juli und August lägen sogar um 40 Prozent höher, sagt der Betreiber einer Tourismusagentur. Aus Kiew geht es für knapp 100 Dollar in Gruppen 150 Kilometer nördlich in die Sperrzone. 70.000 Besucher reisten Behördenangaben zufolge vergangenes Jahr dorthin. In diesem Jahr waren es allein im Mai schon 12.000. Auch andere Tour-Anbieter verzeichnen gerade zunehmende Nachfrage.

Touristen vor einem Souvenirshop an der Sperrzone um Tschernobyl. Zuletzt sind die Besucherzahlen um 30 bis 40 Prozent gestiegen.
Touristen vor einem Souvenirshop an der Sperrzone um Tschernobyl. Zuletzt sind die Besucherzahlen um 30 bis 40 Prozent gestiegen.

© Genya SAVILOV/AFP

Kritikwürdige Posen in Prypjat

Der Besucherandrang hat auch Schattenseiten. Im Netz kursieren fragwürdige Fotos aus der Zone. Allen voran wohl die Aufnahmen einer jungen Frau, die halb nackt in einem weißen Schutzanzug in Prypjat posierte – und wütende Kommentare dafür bekam.

Per Twitter meldete sich sogar Craig Mazin zu Wort, Produzent und Drehbuchautor der Serie. Es sei wunderbar, dass „Chernobyl“ eine neue Welle des Tourismus in die Sperrzone gebracht habe, schrieb er. Besucher sollten aber bedenken, dass sich an dem Ort „eine schreckliche Tragödie ereignete“. Er forderte Respekt gegenüber all jenen, die unter der Katastrophe gelitten haben. Schon als Mazin zur Vorbereitung der Serie selbst nach Prypjat reiste, zeigte er sich beeindruckt von dem Ort. „Ich bin kein religiöser Mann“, erinnerte er sich später, ,,aber dies war so religiös, wie ich mich jemals fühlen werde“.

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Steigende Besucherzahlen sind nicht der einzige Effekt der Erfolgsserie. Um Tschernobyl – in Serie und Realität – ist in den vergangenen Wochen ein regelrechter Hype entstanden. Insbesondere in Teilen der ehemaligen Sowjetunion wie Russland oder Weißrussland ist die Serie großes Gesprächsthema. Vor allem Jüngere erfahren dort mitunter vieles zum Unglück, was ihnen bis heute niemand erzählt hat. Die Sowjetunion versuchte den Vorfall zunächst zu vertuschen. Aber auch heute weiß längst nicht jeder, was damals geschah.

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Veränderte Wahrnehmung

„Weißrussen, die sehr gelitten haben und glaubten, viel über die Tragödie zu wissen, haben ihre Wahrnehmung von Tschernobyl völlig verändert und interpretieren die Tragödie auf völlig neue Weise“, sagte Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch über ihre Landsleute. Ihr Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ zählt zu den Quellen, die Drehbuchautor Mazin studierte. Alexijewitsch interviewte Hunderte Überlebende. Bemerkenswert findet die Nobelpreisträgerin auch, dass der Denkanstoß von Leuten kommt, die „aus einer ganz anderen Welt, nicht aus Belarus und der Region“ stammen.

Ein Besucher fotografiert das Wrack eines Busses.
Ein Besucher fotografiert das Wrack eines Busses.

© Genya SAVILOV/AFP

In Russland ruft die Serie womöglich die gemischtesten Reaktionen hervor. Dass ausgerechnet Fernsehmacher aus dem Westen dieses dunkle Kapitel der Sowjetunion aufgreifen, missfällt einigen. Andererseits danken viele Zuschauer auf Twitter Mazin und dessen Kollegen. Sie berichten von ihren persönlichen Erinnerungen und Verbindungen zum Unglück und erinnern an dessen Opfer. So schafft die Serie plötzlich ein neues, starkes Bewusstsein für die Katastrophe. Bislang nicht gelungen ist es jedoch, deutlich größere Hilfen für die Betroffenen von damals zu arrangieren. Vor dem Start hatte Mazin zu Spenden für eine Hilfsorganisation aufgerufen, etwa an die irische Organisation Chernobyl Children International. Dort gingen seit Serienstart zwar mehr als 12000 Euro ein, eine große Steigerung ist das jedoch nicht.

Prypjat, nahe der Grenze zu Weißrussland, ist heute eine Geisterstadt.
Prypjat, nahe der Grenze zu Weißrussland, ist heute eine Geisterstadt.

© SERERGEY DOLZHENKOGEY DOLZHENKO/picture-alliance/ dpa/dpaweb

Beim kremlnahen, patriotischen Publikum kommt „Chernobyl“ hingegen gar nicht gut an, auch weil die Serie die zögerliche Evakuierung und versuchte Geheimhaltung der Sowjetführung in Moskau thematisiert. Von amerikanischer Propaganda ist in Medien die Rede, die Serie sei „eine Karikatur statt der Wahrheit“. Das Image der Sowjetunion solle in schwarzen Farben gemalt werden, heißt es.

CIA-Spion im Kraftwerk

Das Massenblatt „Komsomolskaja Prawda“ verbreitete gar die Theorie, „Chernobyl“ könnte von Konkurrenten des russischen Atomkonzerns Rosatom in Auftrag gegeben sein, um Russlands wichtigem Exporteur von Kerntechnik zu schaden. „Wenn Angelsachsen etwas über Russen drehen“, meinte der prosowjetische Kolumnist Anatoli Wasserman, „wird es definitiv nicht der Wahrheit entsprechen“.

Eine Luftaufnahme knapp zehn Jahre nach der Katastrophe zeigt den zerstörten Reaktor.
Eine Luftaufnahme knapp zehn Jahre nach der Katastrophe zeigt den zerstörten Reaktor.

© DPA

Die Kleinstpartei Kommunisten Russlands, nicht zu verwechseln mit der weit größeren Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, möchte die „widerliche“ Mini-Serie in Russland am liebsten verbieten. Die Partei wirft den Machern vor, das sowjetische Regime und das sowjetische Volk zu „verteufeln“ und eine Tragödie „in ein Objekt der ideologischen Manipulation“ zu verwandeln. Die Kommunisten fordern sogar ein Strafverfahren wegen Verleumdung gegen die Verantwortlichen der TV-Show.

Einen anderen Weg, um den Blick auf den Unfall zu beeinflussen, wählt derweil der kremltreue Sender NTV. In dessen Auftrag wird schon seit Längerem an einer eigenen Tschernobyl-Serie gearbeitet – finanziell unterstützt vom russischen Kulturministerium.

Er wolle zeigen, was damals wirklich geschehen sei, erklärte der russische Regisseur Alexej Muradow. „Eine Theorie besagt, dass die Amerikaner das Tschernobyl-Werk infiltriert hatten, und viele Historiker bestreiten nicht, dass am Tag der Explosion ein Agent des feindlichen Geheimdienstes auf der Station anwesend war“, behauptete er. In seiner alternativen Darstellung soll es nun um einen KGB-Agenten gehen, der versucht, einen CIA-Spion zu stoppen. Dabei ist die Ursache für den Super-GAU von 1986 unstrittig.

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