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 „Vogelfrau“ mit langen, strähnigen Haaren, riesengroßen Augen und einem breiten, sichelförmigen Mund: "Momo".

© AFP

Horror-Kettenbriefe: Was ist dran am "Momo"-Hype?

Die Gruselfigur Momo erschreckt Kinder im Netz. Sie soll sie angeblich bis in den Suizid treiben. Stimmt das?

Angst kann sinnvoll sein. Nicht zuletzt, wenn es um das Liebste auf der Welt geht: Die eigenen Kinder. Doch Angst kann auch kopflos machen, panisch. Sie verhindert, Dinge zu hinterfragen, und schnell wird aus einem kleinen Schatten an der Wand ein riesiges Monster. So wie bei dem viralen Phänomen „Momo“.

Weltweit berichteten zahlreiche Boulevardmedien, Internetblogs und auch offizielle Stellen im vergangenen dreiviertel Jahr von einer angeblichen „Challenge“, bei der eine Gruselfigur namens „Momo“ Minderjährige via WhatsApp-Messenger und YouTube-Videos zum Suizid verleite. Auch die Münchener Polizei stellte vergangenen Mittwoch öffentlich einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Krankenhausaufenthalt einer 13-Jährigen nach Tablettenmissbrauch und „Momo“ her – vorschnell. Der Verdacht war unbegründet: Von persönlichen Schwierigkeiten im nahen Umfeld sprach Polizeisprecher Peter Werthmann nur zwei Tage später gegenüber dem Tagesspiegel.

In Frankreich, Belgien und Argentinien werden zwar Suizide mit „Momo“ in Verbindung gebracht – Beweise gibt es keine. Um Nachahmungstaten zu verhindern, wird bei suizidalen Hintergründen nicht weiter berichtet. „Korrigierende Meldungen wie im Münchener Fall erreichen die Öffentlichkeit normalerweise nicht, und so bleibt der unbewiesene Zusammenhang im Raum stehen“, erläutert Andre Wolf von Mimikama, einer österreichischen Initiative, die über Internetmissbrauch aufklärt. Dass es tatsächlich eine „Challenge“ gebe, bei der „Momo“ plötzlich in „Peppa Wutz“- oder „Minecraft“-Videos mit sukzessiven Anweisungen zur Selbstverletzung auftauche, sei ein Hoax, eine Falschmeldung. „Ein Video nachträglich in ein bereits hochgeladenes einzufügen ist eine technische Unmöglichkeit“, erklärt Mimikama-Sprecher Wolf.

Auch YouTube teilte inzwischen öffentlich mit, dass es auf seiner Plattform keine „Momo“-Videos mit suizidalem Aufforderungscharakter gefunden habe. Ebenfalls technisch unmöglich ist es, dass – dies behaupten weitere Gerüchte – „Momos“ Profileintrag ohne persönliches Zutun plötzlich auf dem eigenen Handy gespeichert sei. Es gibt darüber hinaus YouTube-Blogger, die verbreiten, dass sie nachts von „Momo“ kontaktiert worden wären, ja, dass sie „Momo“ gesehen hätten. Sichtbar ist jedenfalls, dass diese Videos Clicks in Millionenhöhe und damit nennenswerte Werbeeinnahmen für den Urheber generieren. Jene Trittbrettfahrer leben davon, einen gruseligen Hype weiter anzuheizen.

Wer ist oder war „Momo“ aber wirklich? Die Fakten: „Momo“ ist der Spitzname einer von dem japanischen Künstler Keisuke Aiso inzwischen selbst zerstörten, furchteinflößend aussehenden Skulptur, die seit 2016 in der „Vanilla Gallery“ in Tokio ausgestellt worden war. Viele Besucher ließen sich mit der „Vogelfrau“ mit den langen, strähnigen Haaren, den riesengroßen Augen und dem breiten, sichelförmigen Mund fotografieren, deren Figur auf eine alte japanische Legende zurückgeht. Im Sommer 2018 begannen dann Unbekannte – und dies ist der wahre Kern der „Momo“-Geschichte – unter jenem Konterfei und Namen Kettenbriefe via WhatsApp zu verschicken, stets mit ähnlichem Inhalt: Wenn der Adressat die Nachricht nicht an eine gewisse Anzahl von Kontakten weiterleite, könne ihm Schreckliches zustoßen.

Diese Horror-Kettenbriefe kursieren bis heute und sind neben den Gruselvideos der Trittbrettfahrer auf YouTube die reale Seite des Phänomens, denn sie machen Kindern und Jugendlichen Angst. „Wir empfehlen, nicht auf die Nachrichten zu reagieren oder gar die Nummer zu speichern. Sie sollten schlicht gelöscht werden“, sagt Kriminaloberrat Harald Schmidt, Leiter der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes. Wissenswert ist auch: die Verbreitung solcher Teilnahmeaufforderungen mit vorsätzlichen Drohungen stellt eine Straftat dar.

Das Internet - ein Ort, an dem grausame Märchen lebendig werden?

Warum fällt es so schwer, das „Momo“-Meme zu durchschauen? Da sind neben der Dynamik der Angst häufig unklare, von Sensationslust oder Unsicherheit geprägte Berichterstattungen, die einen Hoax erst zum Hype machen und viele Trittbrettfahrer anziehen. Plausibel wirkt die vermeintliche „Momo-Challenge“ außerdem, weil durchaus echte „Challenges“ existieren wie die „Ice Bucket Challenge“, bei der sich im Sommer 2014 im Zuge einer Aufklärungs- und Spendenkampagne für die Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose zahlreiche Menschen einen Kübel mit Eiswasser über den Kopf gossen. Und es gibt tatsächlich immer wieder YouTube-Videos mit bekannten Kinderhelden, die anstößige oder bedrohliche Inhalte zeigen – auch wenn der Portalbetreiber nach eigener Aussage in jedem Quartal Millionen von Videos und Kanälen entfernt, die gegen ethische und rechtliche Richtlinien verstoßen.

Zuletzt scheint beinah ein Rest Magie-Glaube im Spiel: das Internet als Ort, an dem Märchen, auch grausame, lebendig werden. „Momo“ – ein Zerrspiegelbild eigener Angst und Ohnmacht angesichts der gefühlt undurchdringlichen Wildnis des Internet, die nur eine urbane Legende erklären kann. Doch Initiativen wie jugendschutz.net betonen: Eltern sind nicht ohnmächtig. Sie können die Ängste der Kinder und Jugendlichen ernst nehmen, mit ihnen über die Droh-Kettenbriefe sprechen und erklären, dass beim Löschen solcher Kettenbriefe nichts Schlimmes passieren wird. Und „keinesfalls sollte YouTube als bequemer Babysitter dienen“, betont Mimikama-Sprecher Wolf.

Ein kühler Kopf scheint wohl das Wichtigste. Nur so wird aus einem dämonisch agierenden Monsterwesen wieder das Instagram-Bild einer schaurigen Skulptur. Und damit ein Schatten an der Wand.

Die Ängste der Kinder müssen ernst genommen werden

Eltern sollten mit ihren Kindern über die Existenz und Funktionsweise von Kettenbriefen auf WhatsApp sprechen und Ängste ernstnehmen. Im Notfall oder bei einem Verdacht auf Traumatisierung sind der Gang zur Polizei oder psychologische Hilfe angeraten.

Selbst „YouTube Kids“ ist aufgrund der nur automatischen Filterung nicht vollkommen kindersicher. Eltern sollten in Hör- und Sichtweite bleiben, wenn ihre Kinder dort Videos ansehen und anstößige oder gewaltverherrlichende Videos sofort melden. Das freie Portal YouTube ist für Heranwachsende mit Ausnahme offizieller Kanäle wie zum Beispiel des WDR oder BR ohne die Anwesenheit von Erwachsenen gar nicht geeignet, auch der eingeschränkte Modus bietet keine Sicherheit.

Sinnvolle Alternativen zu den YouTube-Angeboten sind zum Beispiel die Kinderprogramme von Streamingdiensten wie Netflix oder Mediatheken-Apps wie der Kika-Player.

Weitere seriöse und aufklärende Informationen über urbane Legenden wie „Momo“ sowie Hinweise für den Umgang mit anstößigen oder bedrohlichen Inhalten in den sozialen Medien finden sich unter anderem auf www.mimikama.at, www.jugendschutz.net und www.klicksafe.de.

Eva Steiner

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