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Debra Milke als junge Frau nach ihrem Universitätsabschluss.

© IMAGO

Hoffnung auf Leben: Todeskandidatin könnte nach 22 Jahren frei kommen

1990 wurde die in Berlin aufgewachsene Debra Milke in den USA zum Tode verurteilt. Jetzt hat sie gute Chancen, auf eine Zukunft in Freiheit.

Seit 22 Jahren sitzt sie im Frauengefängnis von Perryville (Arizona) im Todestrakt, isoliert von der Außenwelt. 1990 wurde Debra Jean Milke, amerikanische Staatsbürgerin, in Berlin-Steglitz geboren und in Tempelhof aufgewachsen, wegen Mordes an ihrem damals vierjährigen Sohn Christopher zum Tode verurteilt. Zu Unrecht, wie die heute 49-Jährige immer wieder beteuerte. Nun könnten die Jahre des Wartens und Bangens für „Debbie“ ein für alle Mal vorüber sein: Ein Berufungsgericht setzte die gegen sie verhängte Todesstrafe am Donnerstag aus. Akten der Staatsanwaltschaft, die ein angebliches Geständnis Milkes enthalten und Grundlage des Todesurteils waren, dürfen ab sofort nicht mehr verwendet werden. Der Staat Arizona hat nun 90 Tage Zeit, den Fall Milke neu aufzurollen – oder muss die Todeskandidatin in die Freiheit entlassen.

„Es war wie ein verspätetes Geburtstagsgeschenk“, sagt Reinhard Müller, Lebensgefährte von Debras Mutter Renate, dem Tagesspiegel. „Die Freude bei Debbie ist groß. Aber im Grunde hat sie nichts anderes erwartet.“ Milke feierte am 10. März Geburtstag. Sprechen konnte Müller Debra seit Verkündigung des Urteils bisher noch nicht: Die Informationen stammen von Milkes Anwalt in den USA. Dabei hatte Milke dem Tod quasi schon einmal ins Auge geblickt: Der Oberste Gerichtshof von Arizona hatte 1997 ihre Hinrichtung angeordnet. Damals musste die Todeskandidatin die einzelnen Schritte ihrer bevorstehenden Exekution bei einem „Probelauf“ durchexerzieren. Milke legte Einspruch gegen die Todesanordnung ein und bekam recht. Der darauf folgende Berufungsprozess zog sich bis zur Entscheidung am Donnerstag über acht Jahre hin. Durch ihre unmittelbare Festnahme und Inhaftierung konnte Debra Milke weder bei der Beerdigung ihres Sohnes Christopher dabeisein noch sich anderweitig von ihm verabschieden.

Die junge Frau habe trotz alledem nie den Mut verloren, sagt Ingo von Heland, der sich als Journalist mit Milkes Fall befasst und über Telefon und Post Kontakt zu der Todeskandidatin gehalten hat. „Ich habe sie als unglaublich optimistischen, lebensfrohen Menschen erlebt“, sagt er. „Debbie war in den all den Jahren nie komplett am Boden zerstört, sondern immer kämpferisch.“

Die Online-Kartei des Frauengefängnisses von Perryville zeigt Debra Milke mit grauem Haar.
Die Online-Kartei des Frauengefängnisses von Perryville zeigt Debra Milke mit grauem Haar.

© TSP

Dabei fristete Milke im Frauengefängnis von Perryville nach Berichten von Familie und Freunden ein Leben unter widrigen Umständen und zum Teil völliger Isolation. Weil sie jahrelang die einzige zum Tode Verurteilte in der Haftanstalt war und Todeskandidaten in Arizona der höchsten Sicherheitsstufe unterliegen, wurde für Milke ein eigener, in sich völlig abgeschlossener Trakt in dem Gefängnis mitten in der Wüste gebaut. „An manchen Tagen herrscht dort eine unerträgliche, brütende Hitze“, sagt Ingo von Heland. Eine Klimaanlage gebe es in dem Gebäude nicht. „Die Bedingungen sind irrsinnig.“

Einmal pro Tag durfte Milke ihre Zelle in Perryville verlassen – zur „Freistunde“, einer Art Hofgang. Dafür wurde Milke an Händen und Füßen gefesselt. Weil Todeskandidaten in dem Gefängnis als „internes Risiko“ eingestuft werden, gelten bei jeder Freistunde von Milke auch für alle anderen Insassen verschärfte Sicherheitsmaßnahmen. „Die Frauen hassen Debbie dafür“, sagt von Heland.

Dass die heute 49-Jährige trotz aller Umstände den Mut nicht sinken ließ, hat sie ihrer Familie, ihrer Kontaktfreude und Neugier zu verdanken. In ihrer Zelle schaut sich die Inhaftierte Nachrichten im Fernsehen an, schreibt Tagebuch und liest Bücher. „Debbie ist unheimlich gebildet“, berichtet Reinhard Müller voller Stolz. „Sie beantwortet jeden Brief und hat sich im Gefängnis Spanisch beigebracht.“

Er hat Debra in regelmäßigen Abständen zusammen mir ihrer schwer an Krebs erkrankten Mutter im Gefängnis in Arizona besucht und mit ihr von Deutschland aus telefoniert. In den Arm nehmen und drücken konnte er „Debbie“ bei all seinen Besuchen nicht: Eine dicke Glasscheibe trennt die dann an Händen und Füßen gefesselte Inhaftierte in Perryville von den Gästen, die über Telefonhörer miteinander kommunizieren. „Diese Gespräche, die Informationen von draußen, sind total wichtig für Debra“, sagt auch Ingo von Heland. „Wenn wir miteinander gesprochen haben, musste ich ihr immer ganz genau erzählen, was in der Welt passiert ist.“ Der Journalist hat der Todeskandidatin Wörterbücher und Sprachkassetten ins Gefängnis geschickt; die zum Tode Verurteilte wollte ihre Deutschkenntnisse in der Haft aufbessern.

Seit einiger Zeit ist Milke nicht mehr die einzige Insassin im Hochsicherheitstrakt von Perryville: Die 49-Jährige kann sich jetzt durch die dicken Gefängniswände und ohne Blickkontakt mit der zum Tode verurteilten Wendy unterhalten, die ihren Mann umgebracht haben soll.

Wenn sich die Dinge so entwickeln, wie Juristen, Freunde und Familie das erwarten, wird Debra Milke ihren 50. Geburtstag in Freiheit feiern können. „Wir werden Debbie natürlich abholen, wenn sie aus dem Gefängnis kommt“, sagt Reinhard Müller. Seine „Stieftochter“ habe in Gesprächen bereits angedeutet, wo sie ihr künftiges Leben verbringen will – auf gar keinen Fall in den USA. Als neue Lebensmittelpunkte kämen die Schweiz oder Süddeutschland in Frage, wo Milkes Mutter und ihr Lebensgefährte leben. „Sie ist überall herzlich willkommen“, sagt Müller. Vielleicht werde die Amerikanerin aber auch in ihre Heimat Berlin zurückkehren, sagt von Ingo von Heland: „Berlin verkörpert für Debbie immer noch die heile Welt ihrer Kindheit. Sie hat bei unseren Gesprächen oft danach gefragt.“

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