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Ein Mann versucht in der Nähe der kenianischen Stadt Nanyuki einen Schwarm Heuschrecken zu bekämpfen.

©  rtr/BAZ/Ratner

Heuschreckenplage in Afrika: 25 Millionen Menschen droht eine Hungersnot

Die Bekämpfung der Heuschreckenplage in Afrika kommt kaum voran – und jetzt könnten sich die Schwärme um das 400-fache vergrößern.

Die sonst übliche Stille hinter den Bergrücken des zentralafrikanischen Städtchens Isiolo wird vom Getöse eines guten Dutzend Sprühmaschinen gestört. In weiße Overalls gekleidete Männer marschieren in einer Reihe über die Baumsavanne und lassen Gift auf Hunderttausende von kaum einen Zentimeter großen Insekten regnen: Es sind gerade erst geschlüpfte Wüstenheuschrecken, die noch nicht fliegen können und erst in einem Monat ihre ausgewachsene Körpergröße von bis zu zehn Zentimetern erreichen.

Hier bildet sich derzeit eine neue Generation der kenianischen Heuschrecken aus: Die fünfte Generation jener Plagegeister, die vor mehreren Monaten von der arabischen Halbinsel aus über Ostafrika herfielen und die Region in ein Ödland zu verwandeln drohen.

„Sie werden bald alle tot sein“, sagt Julius Likaru, der Leiter des Sprühtrupps, zuversichtlich. Die ersten noch schwarzen Heuschreckenbabys fangen erst unkoordiniert zu zappeln an, dann fallen sie tot um – das Gift hat ihnen den Atem geraubt. Doch als Likaru wenige Minuten später zurückkehrt, um seinen auf den Rücken gespannten Sprühtank aufzufüllen, krabbeln schon wieder Zigtausende von geschlüpften Heuschrecken über die toten Körper ihrer Geschwister.

„Das bringt überhaupt nichts“, murrt ein Kollege von Likaru. „Sie sind wie Soldaten mit unbegrenztem Nachschub, sie kommen wie aus dem Nichts.“ Eine einzige Heuschrecke legt zwischen 50 und 100 Eier. Und der Schwarm, der hier seine Eier verstaut hat, war womöglich über hundert Millionen Exemplare groß.

Anderntags marschiert außerhalb Isiolos das Militär auf. Oberst Odondos halbe Hundertschaft geht generalstabsmäßig vor: „Ein Soldat lässt sich nicht durch höhere Gewalt besiegen“, brüstet sich der Offizier. Tatsächlich richten die Soldaten ein noch umfangreicheres Massaker als Likarus Mannen an: Doch auch ihr Operationsgebiet bleibt auf einen kleinen Streifen entlang der Teerstraße beschränkt.

„Dies ist das einzige Militär-Team in der Provinz“, sagt der Abgeordnete Adamson Langasunya: „Und die meisten Insekten befinden sich in den unzugänglichen Gebieten weit von der Straße entfernt.“

Seit Beginn der kenianischen Heuschreckeninvasion Anfang dieses Jahres konnten die Plagen-Bekämpfer in der Isiolo-Provinz 15 von 43 Schwärmen vernichten. Doch inzwischen werden bereits wieder 34 Schwärme gezählt – und die sind noch umfangreicher als die ihrer Eltern aus der vierten Generation. „Wir haben die erste Runde verloren“, resigniert Salad Tutana, der Leiter des Landwirtschaftsministeriums in Isiolo.

Bislang hat Kenia rund 20.000 Hektar Ackerland besprüht

Mit der Geburt der fünften Generation ist die Heuschreckenplage – die schlimmste, die Kenia seit 70 Jahren erlebt hat – in eine neue Phase getreten. Nach Berechnungen von Seuchenforschern vermögen sich die Heuschrecken von Generation zu Generation um das Zwanzigfache zu vermehren – bis Juni könnten sich die Heuschreckenschwärme in Ostafrika um das 400-fache vergrößert haben.

Schon jetzt sind die Fresser, deren Schwärme mittlerer Größe täglich die Nahrungsmittel von 35.000 Menschen verschlingen, neben Kenia, Äthiopien und Somalia auch schon in Eritrea, Uganda, Tansania, dem Sudan, Südsudan und Kongo angelangt.

Und in Ostafrika wird derzeit für die bevorstehende Regensaison gepflanzt: eine Phase, in der die Fresser den größten Schaden anrichten. Gelingt es den Seuchenbekämpfern weiterhin nicht, den gefräßigen Insekten Einhalt zu gebieten, werden bald 25 Millionen Menschen in der Region vom Hunger bedroht sein, warnen die UN. „Wir haben den Ernst der Lage zu spät erkannt“, sagte Kenias Landwirtschaftsminister Peter Munya kürzlich: „Und jetzt gehen uns auch noch die Insektenvernichtungsmittel aus.“

Finanzhilfen nötig

Experten fordern Kenias Regierung auf, den Notstand über das Land auszurufen – vor allem, um sich dringend nötige Finanzhilfe aus dem Ausland zu sichern. Allerdings wurde schon ein Spendenaufruf der Nahrungsmittelorganisation FAO über 140 Millionen US-Dollar lediglich zu einem guten Drittel erfüllt: Wäre die Privatstiftung von Melissa und Bill Gates nicht mit zehn Millionen US-Dollar in die Bresche gesprungen, sähe die Bilanz noch düsterer aus. Die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft scheint derzeit ganz von der rasanten Ausbreitung der Corona-Epidemie in Beschlag genommen zu sein.

Kenia bräuchte dringend 20 statt der sechs derzeit eingesetzten Sprühflugzeuge, sagt Gesundheitsminister Munya: Und weit über 20 000 statt der bisher gelieferten 7500 Liter Insektenvernichtungsmittel. Selbst wenn dessen Wirksamkeit umstritten und seine Umweltverträglichkeit mehr als zweifelhaft ist: Es ist die einzige Waffe, die den Menschen gegen die Plage zur Verfügung steht.

Bislang hat Kenia rund 20.000 Hektar Ranch- und Ackerland besprüht: Zusammen mit Somalia und Äthiopien müsste in den nächsten Tagen jedoch die fünffache Fläche behandelt werden, sagen Experten. Nach Auffassung des kenianischen Fachmanns für die Auswertung von Satellitenbildern, Kenneth Mwangi, werden die kommenden zwei Wochen entscheidend sein: Gelinge es nicht, die kenianische Heuschrecken-Generation drastisch zu dezimieren, würden die Kosten zu ihrer Bekämpfung von 60 auf 500 Millionen US-Dollar in die Höhe schießen.

Johannes Dieterich, Koert Lindijer

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