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Aus den Trümmern ins Elendsviertel. Die Zeltstädte in der Hauptstadt Port-au-Prince sind aufgelöst worden, indem Menschen umgerechnet 350 Euro bekamen, wenn sie von dort verschwinden. Jetzt leben 120 000 Menschen hier, auf den Hügeln von Corail und Canaan, in einem Riesenslum, 18 Kilometer von der Hauptstadt entfernt.

© picture alliance / dpa

Haiti: Ein Land in der Abwärtsspirale

Genau vier Jahre ist es nun her, dass in Haiti ein Erdbeben verheerende Schäden anrichtete. Viele Hilfsorganisationen kamen damals ins Land, ein Teil hatte keine Ahnung von Haiti. Bis heute schaffen es ausländische NGOs und die Regierung nicht, den Aufbau zu koordinieren.

„Ich muss mich mit den NGOs arrangieren“, seufzt Pierre-Louis Voltaire. Er ist der Vorsitzende des Bürgervereins von Barrière Jeudi in der haitischen Stadt Léogane. „Sie sind die Einzigen, die etwas tun. Die Regierung sagt immer nur, es gebe kein Geld.“ Diese Verhältnisse haben Haiti schon vor dem großen Erdbeben vor vier Jahren den Beinamen NGO-Republik eingebracht. Nach der Katastrophe vor vier Jahren kamen knapp 100 von Regierungen unabhängige Hilfsorganisationen (NGO) nach Léogane, bauten Wasserzisternen, Latrinen, Notunterkünfte, Schulen, Krankenhäuser. „Das war wie ein riesiger Basar, und der Staat hat nichts koordiniert“, erinnert sich Olivier Le Gall vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK). Viele NGOs hatten keine Ahnung von Haiti, brachten fertige Projekte mit, die nicht ins Land passten, und über allem schwebte der Erwartungsdruck von Spendern und Medien.

„Ich wurde vom Ansturm überrumpelt“, erinnert sich Voltaire. „Unser Hauptproblem hier ist der Fluss, der in der Regenzeit über die Ufer tritt, alles überschwemmt und die Straße nach Léogane abschneidet.“ Weil hier alle Bäume fällen, um daraus Holzkohle zu machen, schwillt der Fluss immer mehr an und schwemmt die Erde von den Bergen herunter. „Die Hilfsorganisationen hat der Fluss aber nicht interessiert. Sie wollten Häuer bauen. Eine hat sogar Ziegen verschenkt. Ich will aber nicht mehr Ziegen hier, denn die fressen noch mehr der jungen Triebe ab. Aber die NGO hatte schon mit den Bauern geredet, und ich konnte nicht mehr ablehnen, weil die Leute mich sonst abgesetzt hätten“, erinnert sich der 52-Jährige.

80 Prozent Arme, 40 Prozent Analphabeten, 60 Prozent Arbeitslose und Unterbeschäftigte – damit ist Haiti das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Ein Land in der Abwärtsspirale. 86 Prozent aller Höhergebildeten kehren ihrer Heimat den Rücken, sobald sie nur können. Das alles sollte anders werden nach dem Beben, wie der Chef der Wiederaufbaukommission (IHRC), der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, verkündete. Neun Milliarden Euro Hilfsgelder versprach die internationale Gemeinschaft; Pläne wurden entworfen, wie zerstörte Stadtteile zu Modellsiedlungen werden sollten. Etwa das Armenviertel Fort National. Doch nicht nur Häuser, auch die komplette Infrastruktur hätte neu gebaut werden müssen. „Den ausländischen Geldgebern war das zu teuer“, erinnert sich eine haitianische IHRC-Funktionärin. „Es hätte in so einem armen Land angeblich Sozialneid verursacht.“

1,5 Opfer des Erdbebens, und nur 6000 neue Häuser

Letztlich scheiterte das Vorhaben aber auch im Dschungel von Korruption und Bürokratie. Für Fort National sei er zuständig, befand der Hauptstadtbürgermeister und beauftragte ein einheimisches Architekturbüro mit einem alternativen Bebauungsplan, nachdem schon der Planungsminister eine kanadische Firma und der Finanzminister die Stiftung von Prinz Charles beauftragt hatten. Drei Pläne, dreimal Honorar, kein einziges Haus. Die Bilanz der IHRC ist ernüchternd: 53 Prozent der Hilfe wurden demnach für Logistik und Nothilfe wie importiertes Wasser und Zeltplanen ausgegeben; 90 Prozent gingen an der haitianischen Regierung vorbei und landeten vor allem in den Taschen ausländischer Berater und Baufirmen; nur 2,5 Prozent wurden direkt an die Opfer ausbezahlt.

2011 wurde der Sänger Michel Martelly zum Präsidenten gewählt. „Haiti ist bereit für Investitionen“, lautet der Slogan des zeitweise in den USA lebenden Staatschefs. Er setzte auf Luxushotels, finanziert von der Weltbank, ließ den Flughafen renovieren und mit US-Entwicklungshilfegeldern den Industriepark Caracol bauen – mehr als hundert Kilometer vom Katastrophengebiet entfernt. Dort lässt ein koreanischer Sweatshop für Mindestlöhne zollfrei Kleider nähen. So wird Haiti dank seiner billigen Arbeitskräfte zur verlängerten Werkbank der USA und Asiens.

Für die 1,5 Millionen Opfer wurden nach Angaben des US-Zentrums für wirtschaftliche und politische Studien nur 6000 Häuser gebaut. Ein Hindernis waren die Bodenspekulation und die ungeklärten Eigentumsverhältnisse der Grundstücke. Die meisten Zeltlager sind trotzdem verschwunden, seit die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Absprache mit der Regierung den Obdachlosen eine „Räumungsprämie“ von umgerechnet 350 Euro zahlt. Das Ergebnis ist 18 Kilometer nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince zu besichtigen. 120 000 Menschen strömten auf die kargen Hügel von Corail und Canaan, die von der Regierung zu Staatsland erklärt wurden. Dort basteln sie am nächsten Mega-Slum: Wellblechhütten an Abhängen, Holzhäuser in trockenen Flussbetten. Ohne Planung, ohne Wasser, ohne Strom, ohne Straßen, ohne Schulen, ohne Polizeiaufsicht. Es ist die Keimzelle der nächsten Katastrophe.

Kathlene Francois dagegen hat inzwischen besten Blick von Palmiste-a-Vin. Von ihrer Veranda aus sieht die 42-jährige Hausfrau grüne Hügel, in der Ferne Léogane und an manchen Tagen sogar die türkisblaue Karibik. Früher lebte sie mit ihrem Mann und vier Kindern in einer Hütte, die bei dem Erdbeben vor vier Jahren einstürzte. Das neue Holzhaus hat die Familie eigenhändig errichtet – unter fachkundiger Anleitung des SRK. „Die Regierung hat sich nicht um uns gekümmert“, erinnert sich die 42-Jährige. Eine Klage, die oft zu hören ist.

Eine Multimedia-Darstellung der Autorin über Haiti finden Sie unter: http://www.weko-media.de/

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