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Stiller Protest: In Kalkutta demonstrieren Frauen gegen sexuelle Gewalt.

© dpa

Gruppenvergewaltigungen in Indien: Frauenrechtlerin: „Politik und Polizei versagen“

Obwohl in Indien kaum ein Tag vergeht, an dem die Zeitungen nicht über neue Vergewaltigungen berichten, zeigt die Politik keine ernsthaften Anstrengungen, die Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Ein Interview mit der indischen Frauenrechtlerin Ranjana Kumari.

Rund acht Monate ist es her, dass die brutale Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in Delhi Massenproteste auslöste. Wochenlang zogen zum Jahreswechsel vor allem junge Menschen auf die Straße, um gegen die Gewalt gegen Frauen zu demonstrieren. Hat sich die Lage seitdem verbessert?
Die Bilanz ist gemischt. Positiv ist, dass es einen Bewusstseinswandel gibt und Teile der Gesellschaft Gewalt gegen Frauen nicht mehr einfach hinnehmen. Nach der Gruppenvergewaltigung einer jungen Fotografin in Mumbai vergangene Woche gab es sofort Proteste. Die Gesellschaft reagiert. Vor einigen Jahren war das noch nicht der Fall.

Dennoch geht die Serie von Vergewaltigungen unvermindert weiter. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Zeitungen nicht über neue Schreckenstaten berichten.
Ja, vor allem die Reaktion des Staates ist ernüchternd. Politiker und Polizei versagen. Sie zeigen keine ernsthaften Anstrengungen, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. In Delhi haben sich die gemeldeten Vergewaltigungen seit Dezember verdoppelt. Wenn Polizei und Politik nur 50 Fälle strikt und zügig verfolgt hätten, hätte dies eine klare Botschaft ausgesandt, dass Vergewaltiger ins Gefängnis wandern. Aber dies ist nicht passiert. Einer der Vergewaltiger von Mumbai soll bereits sechs Frauen vergewaltigt haben, bevor er die Fotojournalistin angriff. Aber er war weiter auf freiem Fuß. Das sind die Gründe, warum niemand das Gesetz respektiert.

Sie klingen frustriert.
Ich bin komplett enttäuscht. Nach den Protesten gab es Hoffnung, dass sich etwas bewegt. Aber wir sehen keine großen Fortschritte. Die politische Klasse verhält sich unverantwortlich. Selbst nach der jüngsten Vergewaltigung in Mumbai haben Politiker die Schuld den Opfern zugeschoben. Die Polizei reagiert nur, wenn es öffentlichen Druck und Proteste gibt. Aber wir können nicht jeden Tag auf die Straße gehen.

Die Regierung hat eigens Schnellgerichte eingerichtet, damit Vergewaltiger künftig zügiger verurteilt werden.
Die Schnellgerichte bedeuten lediglich, dass die Polizei die Anklageschrift binnen 90 Tagen vorlegen muss. Das Gerichtsverfahren selbst wird dadurch nicht zügiger. Viele vergewaltigte Frauen warten fünf oder sogar zehn Jahre, bis es zu Urteilen kommt.

Im Westen besaß Indien bisher ein friedvolles Image. Viele waren schockiert, als ihnen klar wurde, welches Ausmaß die Gewalt gegen Frauen hat. Ist diese Gewalt ein neues Phänomen?
Nein, das ist kein neues Problem. Die Gruppenvergewaltigung vom Dezember hat aber das Problem in Indien und im Ausland ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Das ist positiv, weil wir das Problem nicht länger unter den Teppich kehren, sondern endlich offen diskutieren. Immer mehr Frauen gehen zur Polizei, wenn sie vergewaltigt werden, statt zu schweigen, weil sie sich ihrer Rechte bewusster sind.

Was muss geschehen?
Politik, Polizei und Justiz müssen an einem Strang ziehen und wirklich entschlossen sein, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Zumindest das Oberste Gericht hat nun geurteilt, dass Kompromisse zwischen Vergewaltigern und ihren Opfern, wie sie oft noch üblich sind, das Strafmaß nicht verringern. Das ist ein großer Schritt nach vorne. Bis jetzt bleiben viele Vergewaltiger auf freiem Fuß, weil die Mädchen gezwungen werden, ihre Vergewaltiger zu heiraten oder für Geld zu schweigen.

Warum gibt es so viele Vergewaltigungen, vor allem Gruppenvergewaltigungen?
Frauen sind eine leichte Beute. Vor allem Frauen aus ärmeren Schichten, aus Slums, aus unteren Kasten und vom Lande, sind praktisch schutzlos. Vergewaltigung ist ein Instrument der Macht und der Kontrolle, um Frauen einzuschüchtern. Frauen werden als Objekte gesehen, als Körper und nicht als Menschen. Und einige Männer scheinen es zu genießen, zuzusehen, wie eine Frau vergewaltigt und verstümmelt wird wie bei der Tat in Delhi, wo die Täter eine Eisenstange benutzten. Es gibt eine große sexuelle Frustration und Aggressionen. Mädchen und Jungen wachsen weitgehend getrennt auf. Auch Pornografie ist immer leichter zugänglich und trägt dazu bei, dass Frauen als Sexobjekte wahrgenommen werden.

Die Diskriminierung von Frauen ist in der Gesellschaft tief verwurzelt. Wie lange wird es dauern, bis sich das ändert?
Das ist keine Frage von Tagen, Wochen oder Jahren. Das wird mindestens eine Generation brauchen.

Indien galt lange als sicheres Reiseziel für alleinreisende Frauen. Nun fragen sich Touristinnen, ob sie noch nach Indien reisen können.
Viele Frauen reisen alleine durch Indien. Und die große Mehrheit macht gute Erfahrungen. Ich würde keiner Frau abraten, nach Indien zu kommen. Aber wie auch in vielen anderen Ländern sollte man gewisse Vorsichtsmaßnahmen beachten. Man sollte niemanden berühren, unsichere Gebiete meiden und sich ein wenig vorsehen, wenn man durch die Gegend reist.

Ranjana Kumari ist eine bekannte indische Frauenrechtlerin. Sie leitet das Centre for Social Research (Zentrum für Sozialforschung) in Delhi. Mit ihr sprach Christine Möllhoff.

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