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Entwicklungshilfe: Äthiopische Lektionen

Zuerst kam die Dürre, dann Entwicklungshilfe, schließlich fielen die Getreidepreise. Die NGOs in Gode meinen es gut – doch am Ende helfen die Helfer nur sich selbst.

Als der Junge dem Menschen begegnete, der sein Leben verändern sollte, dachte er zuerst an ein Knäuel. Der Alte kauerte im Wüstenstaub am Rand der Wüstenstadt Gode, die Kleider in Fetzen gerissen, der Blick auf den Boden gerichtet. Nur die rechte Hand passte nicht ins Knäuel-Bild. Sie ragte heraus, zu einem Behälter geformt, ein paar Münzen lagen darin. Als der Junge den Mann noch einmal ansah, erkannte er ihn. „Du bist doch Bauer am Fluss Shebelle“, sagte er. Der Mann antwortete nicht, starrte weiter auf den Boden. Erst als der Junge sich zu ihm auf den Boden hockte und leise fragte: „Wie kommt es, dass du hier lebst?“, erzählte der Alte seine Geschichte.

Fünf Jahre zuvor hatte eine schwere Dürre das Land heimgesucht, die Saat des Bauern verdorrte. Mit der Hungersnot, die folgte, kamen zahlreiche Entwicklungshilfeorganisationen in die Gegend, sie verteilten kostenlos Mais und Getreide. Im Jahr darauf, es hatte wieder geregnet, die Saat war aufgegangen, kaufte dem Bauern niemand die Ernte ab. Die Bewohner von Gode brauchten seinen Mais und sein Getreide nicht – sie erhielten immer noch kostenlos Lebensmittel. Und auch im zweiten Jahr nach der Dürre bekamen viele Familien umsonst Mais, so viel, dass sie einen Teil auf dem Markt billig weiterverkaufen konnten. Der Preis für Mais fiel, der Bauer musste sein Land verkaufen, zog in die Stadt und beantragte für seine Familie Lebensmittelspenden.

Der Junge, der Abubaker Mohamed heißt, Sohn eines Viehzüchters und heute 29 Jahre alt ist, sitzt im Halbschatten einer Schirmakazie, nicht weit von der Stelle, wo er damals den Alten traf. Er sagt: „Als ich die Geschichte des Bauern hörte, wollte ich verhindern, das so etwas noch mal passiert.“ Er schloss sich der Organisation OWDA an. Sie unterstützt Bewohner, die sich selbstständig machen wollen. Sie kämpft gegen Lebensmittelspenden internationaler Hilfsorganisationen.

Die Geschichte vom Bauern und vom Jungen spielt in Gode. In der Stadt kann man sehen, wie sinnlos Entwicklungshilfe sein kann. Und wie sinnvoll.

Die Kleinstadt, in der 30 000 Menschen leben, taucht in keinem Reiseführer auf. Sie liegt am südöstlichen Rand von Äthiopien, in der Wüste, keine 200 Kilometer von Somalia entfernt, mit dem Auto braucht man von der Hauptstadt Addis Abeba drei Tage hin, weil mehr als die Hälfte der Strecke auf Sandstraßen zurückgelegt werden muss. Das Zentrum von Gode ist eine staubige Straßenkreuzung, an der ein paar Männer auf niedrigen Hockern sitzen, süßen Tee trinken und gemeinsam fernsehen. Am Straßenrand liegen leere weiße Säcke, auf denen in hellblauer Schrift „World Food Programme“ steht. Es sind die Säcke, in denen die Lebensmittelspenden verteilt werden.

Die internationale Entwicklungshilfe entdeckte die Stadt vor zwölf Jahren, in jenem Jahr, in dem auf die schwere Dürre die große Hungersnot folgte. Etwa 20 Länder entsandten Hilfsorganisationen, die NGOs, in die Stadt, sie verteilten Nahrungsmittel und frisches Wasser. Als es im nächsten Jahr wieder regnete, waren die meisten NGOs immer noch da. Und es kamen neue Organisationen hinzu. Gerade sind 15 vor Ort.

Mit den Hilfsorganisationen zogen viele Landbewohner in die Stadt, entweder weil sie auf die Lebensmittelspenden angewiesen waren. Oder weil sich, wie in der Geschichte des alten Bauern, der Ackerbau nicht mehr lohnte. Oder weil sie auf einen Job bei einer NGO hofften. Oder weil sie sich mit finanzieller Unterstützung einer Hilfsorganisation selbstständig machen wollten. Heute hat Gode nach Angaben eines Dorfältesten jedenfalls fünf Mal so viele Einwohner wie noch im Jahr 2000. Die meisten Neuankömmlinge leben am Stadtrand in den Armenvierteln, in runden Grashütten, die kaum vor der Hitze und vor Sandstürmen schützen.

Die NGOs brachten auch Wohlstand in die Stadt. Die Teehäuser im Zentrum haben jetzt Kühlschränke und verkaufen kaltes Bier. Seit fünf Monaten kann man in Gode mit dem Handy telefonieren, allerdings nur ein paar Stunden am Tag. Gerade baut die Stadtverwaltung die erste asphaltierte Straße, denn es gibt jetzt auch ein paar Autos. Die Bewohner von Gode besitzen zwar höchstens einen Eselskarren, doch die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen fahren Geländewagen.

Abubaker Mohamed, der Junge von damals, ist heute ein ernsthafter Mann mit sanfter Stimme. Er sagt: „Das Problem in Gode, und auch in anderen afrikanischen Städten, ist, dass viele internationale Hilfsorganisationen auch dann Lebensmittel verteilen, wenn es gar nicht mehr notwendig ist. Das macht die Menschen abhängig und faul.“ Die Schirmakazie, unter der er sitzt, wirft einen löchrigen Schatten auf sein Gesicht. „Viele denken: Wieso sollte ich arbeiten, wenn ich auch so ganz gut leben kann?“

Eines von Abubaker Mohammeds Problemen ist das Welternährungsprogramm der UN, das – zusammen mit anderen NGOs wie US Aid – bis heute Mais in Gode verteilt. Er und seine Kollegen haben die UN-Mitarbeiter in Gode schon oft gedrängt, die Lebensmittelverteilung zu stoppen, zuletzt vor einem halben Jahr. Die Antwort lautete: „Wir haben mit den Verantwortlichen gesprochen. In der UN brauchen Entscheidungen Zeit.“

Volker Seitz, jahrzehntelang Botschafter in afrikanischen Staaten und Autor des Buchs „Afrika wird arm regiert“, sagt: „Die UN ist Teil des Entwicklungsproblems. Sie arbeitet nicht effizient: 70 Prozent des Budgets fließen in Personalkosten!“ Seitz erklärt auch: „Wer die Armut bekämpfen will, muss die Landwirtschaft fördern und nicht Nahrungsmittel liefern.“

Ein Sprecher des Welternährungsprogramms in Äthiopien sagt, die Lebensmittelspenden in Gode seien mit der Regierung in Addis Abeba und anderen NGOs abgestimmt. Die Spenden würden vor allem an schwangere und stillende Frauen verteilt, an Kinder und an HIV-Infizierte. Außerdem würden die Nahrungsmittel zum meist in der Region gekauft, die Spenden seien an Auflagen geknüpft. Zum Beispiel müsse jeder, der Nahrungsmittel bekommt, Arbeit leisten. Ziel sei, dass sich die Gemeinschaft selbst versorgen könne.

Nicht nur die Menschen hören wegen der Lebensmittelspenden auf, sich um die Versorgung zu kümmern. Auch der Staat. In Äthiopien wurde vor ein paar Jahren die „Disaster Prevention and Preparedness Commission“ geschaffen, eine staatliche Organisation, die regelmäßig internationale Nahrungsmittelhilfe einfordert. Volker Seitz schreibt, die Hungerhilfe sei heute der zweitgrößte Wirtschaftszweig des Landes, sie wachse schneller als die Landwirtschaft.

Europa ist der größte Geldgeber, die EU-Staaten finanzieren mehr als die Hälfte der Entwicklungshilfe in Afrika. Äthiopien ist das Lieblingsland der Entwicklungshelfer – Organisationen aus 30 Ländern konkurrieren dort miteinander – und die Region Ogaden, in der Gode liegt, eine der Lieblingsregionen.

Auch Mustefa Haji hat schon mit den Verantwortlichen des Welternährungsprogramms gesprochen, um die Nahrungsmittelspenden in Gode zu stoppen. Auch er hatte bislang keinen Erfolg. Haji, ein hochgewachsener, hagerer Mann, 48 Jahre alt, arbeitet in Gode für die Hilfsorganisation SOS Kinderdörfer weltweit. Er ist Programmdirektor und damit für alles verantwortlich, was SOS in Gode macht. Haji bringt außerdem regelmäßig die NGOs von Gode mit dem Ältestenrat der Stadt zusammen. Beim jüngsten Treffen beschlossen sie, dass noch mehr Familien finanzielle Unterstützung bekommen sollen, um sich selbstständig zu machen. Jeder NGO wurde ein Ältester zugeteilt, der half, die bedürftigsten Familien zu finden.

Bevor Mustefa Haji nach Gode kam, war er zehn Jahre lang Abgeordneter in Addis Abeba. „Mehr Zeit in der Politik verdirbt den Charakter“, sagt er heute, acht Jahre später, und lacht ein seltsam ernstes Lachen. Er sitzt in seinem kleinen Büro im Kinderdorf von Gode, in einem lehmfarbenen Bungalow, um die Hüften hat er sich ein blau-weißes Tuch gewickelt, die traditionelle Tracht der somalischen Männer. Um anzukommen, wo er jetzt ist, musste der Sohn eines Nomaden hart kämpfen. Im Ogadenkrieg – Somalia wollten die äthiopische Somaliregion annektieren – entführten ihn Aufständische, Haji war zwölf, sie wollten ihn zum Kindersoldaten machen. Er schaffte es zu fliehen und zurück nach Hause. Doch weil seine Familie Angst hatte, die somalischen Soldaten könnten den Geflohenen entdecken, schickte sie ihn nach Addis Abeba zu Verwandten. Dort besuchte Haji das erste Mal eine Schule.

Haji sagt heute: „Ich glaube, dass es einer Gesellschaft guttut, wenn jeder Einzelne sich anstrengen muss.“

Als er sich von der Politik verabschiedete, zog er in seine Heimatregion, er wollte eine Entwicklung anstoßen, die erst Arbeit und irgendwann Wohlstand bringen sollte. Einen Job bei einer Hilfsorganisation lehnte er damals ab. Zu oft hatte er erlebt, dass Entwicklungshilfe den Status quo verankerte und die Menschen abhängig machte. Hajis Plan: Investoren anlocken. Er wünschte sich, dass Geschäftsmänner Getreidemühlen finanzierten oder Schuhfabriken. Doch Mustefa Haji fand niemanden, der Geld in die Wüste stecken wollte. Da bot ihm ein Bekannter einen Job bei SOS in Gode an.

Die Organisation war mit den anderen NGOs während der großen Hungersnot gekommen und hatte vier Jahre später ein Kinderdorf für Waisen und eine Schule eröffnet. Die Organisation unterstützte und unterstützt außerdem arme Familien, damit die Kinder zur Schule gehen können. Mustefa Haji sah sich das Kinderdorf und die Schule an und entschied, der Job sei das Beste, was er gerade machen könne.

„Dass bei SOS Bildung so wichtig ist, hat mich überzeugt“, sagt Haji. „Nur wenn unsere Kinder eine gute Ausbildung haben, wenn sie Englisch können und rechnen, dann werden wir unabhängig von Hilfsorganisationen sein.“ In ein paar Jahren will Haji noch einmal versuchen, Investoren für Gode zu gewinnen.

Noch ist die Realität in Gode eine andere. Mustefa Haji schätzt, dass ein Drittel der Bewohner von Gode von Entwicklungshilfeorganisationen unterstützt werden, mit Lebensmittelspenden, Sachspenden oder finanzieller Hilfe. Die anderen arbeiten als Tagelöhner beim Straßenbau, auf dem Markt oder als Wachmänner in den Büros der NGOs.

Fragt man die Menschen auf dem Markt, einer Ansammlung von schmalen Holzhütten, ob sie schon mal Hilfe von NGOs erhalten haben, antworten alle mit „ja“.

Und auch die Stadtverwaltung in Gode verläßt sich mittlerweile auf die NGOs.

Als eine Gruppe Weißer das öffentliche Krankenhaus von Gode besucht – einen Flachbau, in dem es so heiß ist, dass sich die Patienten in den Innenhof legen –, fragt der Chefarzt nach kurzer Zeit: „Haben Sie einen Block dabei?“ Dann diktiert er: „Wir brauchen: Schuhe, Patientenkittel, Vorhänge, Verbandsmull …“

Während er spricht, öffnet sich sein Arztkittel und ein T-Shirt wird sichtbar. Darauf steht: „Less is More“.

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