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3096 Tage gefangen: Natascha Kampusch trat nach ihrer Flucht in die Öffentlichkeit - und wurde dafür auch angefeindet.

© picture alliance / dpa

Entführungsfall Kampusch: Videos aus dem Verlies von Natascha Kampusch aufgetaucht

Wolfgang Priklopil soll zahlreiche Videos gemacht haben. Deren Protokolle erscheinen nun in einem Buch und sollen belegen, dass Natascha Kampusch die Wahrheit gesagt hat - und dem Fall kein Komplott zu Grunde liegt.

Zehn Jahre ist es her, dass sich Natascha Kampusch aus ihrer Gefangenschaft befreit hat. Nun eröffnet der Journalist und ehemalige Beamte der Hamburger Kriminalpolizei Peter Reichard ein neues Kapitel in der schier endlosen Debatte um den „Fall Kampusch“: In seinem am Montag erscheinenden Buch veröffentlicht er Protokolle bislang unbekannter Videoaufnahmen, die der Entführer Wolfgang Priklopil in dem Verlies gemacht haben soll, aus dem Kampusch erst nach 3096 Tagen fliehen konnte.

Seit die Kamerateams aus aller Welt ins niederösterreichische Strasshof kamen, um über den Fall des acht Jahre lang entführten Mädchens zu berichten, gab es stetig neue Gerüchte, dass nicht die ganze Wahrheit ans Licht gekommen ist. Spekuliert wurde über einen Mittäter, über eine einflussreiche Kinderschänder-Bande als wahren Drahtzieher oder darüber, dass Priklopil sich nicht selbst umgebracht hatte, sondern ermordet wurde. „Die Protokolle beweisen: das ist alles Quatsch!“, sagt Reichard im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Der Autor kennt Kampusch gut

Reichard und seine Frau kennen Kampusch und ihre Familie gut, erst vor wenigen Tagen saßen sie zusammen. „Man möchte sie nur in den Arm nehmen“, sagt Reichard. Obwohl er in seinem Buch journalistisch vorgeht und die Ereignisse chronologisch und ohne sie zu werten schildert, wird im Gespräch mit ihm schnell klar, dass die vielen Jahre ihn auch zu einem Kämpfer für die Ehre der Natascha Kampusch gemacht haben. „Meine Frau und ich gehen mit dem Fall bald ins Zehnjährige“, sagt er. Dabei deckten sich die Aussagen des früheren Entführungsopfers und die Realität, erklärt Reichard. Wie er an die umfangreichen Videoaufnahmen gekommen ist, die mit einer Canon-Kamera MV 5 aufgenommen wurden, möchte er indes nicht verraten.

In seinem Buch „Der Entführungsfall Natascha Kampusch“ zeichnet Reichard das Bild eines psychologischen Duells zwischen Entführer und Opfer. War sie zu Beginn ihres Martyriums noch das verzweifelte Kind, gewann Kampusch dank ihrer emotionalen Intelligenz über die Jahre immer mehr an Stärke, während Priklopil am Ende ein Wrack war.

Natascha habe mit ihren „hauchfeinen Antennen“ ihren Peiniger in ihre Kinderwelt „entführt“, die er selbst nie wirklich erlebt habe, erklärt Reichard. So zeigen die Filmaufnahmen, wie alle Geburtstage und Weihnachtsfeste begangen wurden, wie Natascha Geschenke einwickeln musste, wie Priklopil zwischen Brutalität und Gnade schwankte. „Wie ein KZ-Arzt vermaß er akkurat jedes einzelne Körperteil seiner spindeldürren Gefangenen, um sie hinterher als ‘zu fett‘ zu beschimpfen“, schreibt Reichard in seinem vorab erschienenen Beitrag in der „Welt am Sonntag“. Ständiger Nahrungsentzug war Priklopils Methode, um seine Gefangene körperlich schwach und emotional gefügig zu halten.

Keine Hinweise auf weitere Täter

Hinweise auf einen Mittäter, auf Pornoaufnahmen oder andere bislang unbekannte Fakten zum Fall fehlen laut Reichard vollkommen. „Verrückte Theorien wird es immer geben“, erklärt er dazu, aber diesen sei nun spätestens durch sein Buch und die Videos die Grundlage entzogen. Erst vor wenigen Wochen hatte die Staatsanwaltschaft Wien den Fall wieder aufgerollt, eine Anzeige wegen Mordverdachts an Priklopil wird geprüft. Der Fall ist in Österreich ein Dauerpolitikum, Ermittler wurden verbraucht, einer nahm sich 2010 das Leben, nachdem er nicht an einer Pressekonferenz hatte teilnehmen wollen, in der die Einstellung des Falls bekanntgegeben werden sollte. Auch einen Film zu dem Drama gibt es bereits.

Dass die Wellen nicht abebben und sich gar ranghohe ehemalige Richter mit eigenen Theorien zum Tathintergrund hervortaten, hat für Reichard mehrere Gründe – von denen einer Kampuschs TV-Auftritte nach ihrer Flucht waren. „Sie trat für viele geradezu madonnenhaft auf, mit scheinbarer Distanz zu allem.“ Wäre sie als Häufchen Elend im Fernsehen vorgeführt worden, „hätte Österreich sie geliebt“.

Reichard sagt, er hoffe auf „einen Moment der Scham“ bei vielen, die „Verschwörungstheorien“ verbreitet hätten. Dieses Ziel könnte er erreichen. Doch trotz des spektakulären Auftauchens der Videos dürfte der „Fall Natascha Kampusch“ Österreich weiter beschäftigen, denn auch Videos können naturgemäß nur zeigen, was da war, aber nicht welche Puzzle-Stücke möglicherweise zur ganzen Wahrheit fehlen.

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