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Die Kathedrale im Aufbau.

© Geoffroy van der Hasselt/AFP

Ein Jahr nach dem verheerenden Brand: Was passiert jetzt mit Notre-Dame?

Mittlerweile muss sich Paris wegen des Coronavirus mit einem ganz anderen Problem befassen. Doch der Aufbau der Kathedrale bleibt eine Herausforderung.

Es fühlt sich an, als sei es viel länger her, ein Ereignis aus einer anderen Zeit. Tatsächlich aber ist es an diesem Mittwoch erst ein Jahr her, dass die Pariser Kathedrale Notre-Dame in Flammen stand. Der Feueralarm wurde am Abend des 15. April 2019 um 18.20 Uhr ausgelöst. Doch inzwischen kämpft Frankreich, wie die ganze Welt, an einer völlig anderen Front, fast 15.000 Menschen sind bis jetzt an oder mit Covid-19 gestorben, fast fünfmal so viele wie in Deutschland.

Das öffentliche Leben ist noch viel stärker stillgelegt als hierzulande, manche Pariser haben seit einem Monat ihre Wohnung nicht mehr verlassen, ihre Lebensmittel lassen sie sich liefern. Und auch Saint-Sulpice auf der linken Seine-Seite im 6. Arrondissement, zweitgrößte Kirche der Stadt und Ersatzkathedrale, ist geschlossen. Keine guten Zeiten für den Glauben – oder doch?

Notre-Dame jedenfalls verschwindet nicht aus dem Bewusstsein der Franzosen. Nicht diese Kirche, die einen besonderen Platz besetzt, psychologisch wie topografisch: im Herzen der Hauptstadt, am Ostende der Île de la Cité, wo schon seit Römerzeiten und wahrscheinlich noch früher, als gallische Stämme hier siedelten, die Religion ihren Platz hat. Die Westseite der Insel ist hingegen bis heute der weltlichen Macht vorbehalten, im Mittelalter den Kapetinger- oder Valois-Königen, heute der Justizverwaltung.

Andere Kathedralen, etwa in Chartres, mögen prächtiger oder politisch bedeutsamer sein – in Reims wurden die französischen Könige gekrönt, in Saint-Denis bestattet –, aber sie liegen trotzdem an der Peripherie. Notre-Dame war und ist der Mittelpunkt Frankreichs, in der Romantik neu entdeckt durch Victor Hugos 1831 erschienenen Roman, der im Deutschen den irreführenden Titel „Der Glöckner von Notre-Dame“ trägt, während er im Original schlicht „Notre-Dame de Paris“ heißt. Protagonistin ist die Kathedrale.

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Einzigartige Momente konnte man hier erleben, etwa wenn während der Messe eine Sopranistin anfing zu singen, ihre Stimme vom Gewölbe zurückgeworfen und sich plötzlich zu einer Art göttlichen Widerhalls entwickelte, der die physische Anwesenheit Hunderter anderer Besucher völlig vergessen ließ. Was noch vor wenigen Jahren intensive Gegenwart war, ist auf einmal nur noch Erinnerung, auf lange Zeit nicht mehr möglich – niemand kann sagen, wie lange.

Das Feuer hat vor allem den Dachstuhl zerstört, den man „la forêt“ („den Wald“) nannte, weil seine 1300 Eichenbalken aus dem 13. Jahrhundert von ebenso vielen verschiedenen Bäumen stammten, und das Bleidach schmelzen lassen. Außerdem ist der markante hölzerne Turm über der Vierung, wo sich Haupt- und Seitenschiff queren, eingestürzt.

Der war zwar nicht original mittelalterlich, sondern wurde von dem nicht unumstrittenen Architekten und leidenschaftlichen Restaurator Eugène Violett-le-Duc Mitte des 19. Jahrhunderts in freier Nachahmung hinzugefügt. Allerdings verlieh er der Silhouette des Bauwerks ein einzigartiges Streben himmelwärts, und er ist integraler Bestandteil jener Kathedrale, die 1991 in die Unesco-Welterbeliste aufgenommen wurde. Übrigens waren es Restaurierungsarbeiten an ebendiesem Turm, die den Brand überhaupt erst ausgelöst haben.

200 Tonnen Material stürzten herunter

Bei einem Besuch im vergangenen Sommer wirkte Notre-Dame surreal intakt, wenn auch quasi halbiert, die Fensteröffnungen mit gigantischem Tesakrepp abgeklebt, als läge da ein verwundetes und notdürftig verarztetes Tier an der Seine. 200 Tonnen herabgestürzten Materials sind inzwischen beseitigt, das Mauerwerk einschließlich der Zwillings-Glockentürme scheint seine Statik behalten zu haben, auch wenn das immer noch nicht endgültig erwiesen ist.

Denn noch steht das 500 Tonnen schwere Gerüst, das ursprünglich zur Restaurierung des Vierungsturms errichtet worden war und dessen Stahlträger sich durch die enorme Hitze des Brandes teilweise ineinander verschmolzen haben. Es abzubauen, ist die derzeit größte Herausforderung, und erst dann kann man sagen, ob die Wände wirklich stabil sind. Die Arbeiten hatten im März 2020 begonnen – doch dann kam die Coronakrise. Jetzt ruht alles.

Infografik: Feuer in der Kathedrale Notre-Dame in Paris
Infografik: Feuer in der Kathedrale Notre-Dame in Paris

© Tagesspiegel/Böttcher

Was weitergeht, ist die Debatte über den eigentlichen Wiederaufbau, der stark in Verzug geraten ist und 2021 endlich starten soll. Einige wohlhabende Unternehmerfamilien hatten bereits kurz nach dem Brand Millionenspenden angekündigt, was im streitfreudigen Frankreich für Irritationen sorgte: Statt prestigeträchtiger Einzelspenden wäre es doch eine gute Idee, wenn sie ihrer Steuerpflicht nachkämen, hieß es.

Ein Jahr später sind insgesamt knapp eine Milliarde Euro von 320000 Spendern und Stiftungen zugesagt. Von seinem forschen Versprechen, Notre-Dame werde schon in fünf Jahren „schöner als je zuvor“ erstrahlen, scheint Emmanuel Macron abgerückt zu sein, auch wenn Jean-Louis Georgelin es weiterhin im Munde führt.

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Der pensionierte General und Katholik ist vom Präsidenten als Chef eines Etablissement public zum Wiederaufbau von Notre-Dame eingesetzt worden; er macht mit markigen Sprüchen von sich reden: Chefarchitekt Philippe Villeneuve hatte er im November 2019 während der Sitzung eines Parlamentsausschusses angebellt, er solle „fermer sa gueule“ – „seine Schnauze halten“.

Kühne Architektenträume eines zeitgenössischen Wiederaufbaus, etwa mit begehbarem Glasdach oder einem Vierungsturm aus Laserlicht, durften sich kurz nach dem Brand austoben. Inzwischen scheint Konsens zu sein, dass Notre- Dame originalgetreu rekonstruiert wird. Wann hier wieder Messen stattfinden können, liegt momentan aber in Gottes Hand. Und jetzt muss sowieso erst mal eine ganz andere Krise überwunden werden.

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