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Tiefe Wunden. Eine trauernde Frau auf dem Massenfriedhof vor Port-au-Prince.

© Jorge Silva/Reuters

Ein Jahr nach dem Beben: Haiti: Ein Land erstarrt

Haiti, ein Jahr nach dem großen Beben: Die Bevölkerung trauert – und das politische System wird der Krise noch immer nicht Herr.

Wanja traut dem Frieden noch nicht so recht. Mit schräggelegtem Kopf schaut sich das Mädchen mit den abstehenden kleinen Zöpfen unter ihren blauen Haarspängchen um. Bei dem verheerenden Beben in Haiti vor einem Jahr wurde die heute Zwölfjährige schwer von den einstürzenden Trümmern ihrer Schule verletzt. Heute wollen sie hier ihrer 150 Mitschüler gedenken, die es nicht geschafft haben, als der Berg unter ihnen an jenem 12. Januar nachmittags um 16 Uhr 53 bebte, 40 Sekunden lang. Aber die Nonnen vom Orden der kleinen Schwestern von St. Thérèse wollen den Tag der Trauer an der Schule St. Francois de Sales auch zu einem der Freude machen: Am Jahrestag wird der Grundstein für ihre neue Schule gelegt. Geplant haben sie Architekten aus Chile, dort bebt die Erde öfter als in Haiti, sie wissen, wie man für solche Situationen vorbeugt. Doch das schlaksige Mädchen, über deren linkes Bein sich eine breite, lange Narbe zieht, mag das nicht glauben. „Vor der Schule habe ich Angst“, sagt Wanja, dreht ihren Fuß verlegen hin und her. Man kann nur ahnen, was in dem jungen Kopf vor sich gehen mag.

Sie war an dem Nachmittag mit 349 anderen Kindern in der Schule auf dem steilen Berg oben in Carrefour, anderthalb Autostunden von der Hauptstadt Port-au-Prince entfernt, als Haiti in nicht einmal einer Minute zusammenbrach. Ein 3000 Tonnen schwerer Hut aus unwirklich weißem Schutt blieb übrig. Durcheinanderpurzelnde Schulbänke, grüne Treppen, die plötzlich wie Leitern ins Nirgendwo ragten, eine gespenstische Szenerie. Einen Puppentorso hatte es in einen Baum geworfen, das Beinchen lag darunter, Schulhefte mit den großen Fußballstars aller kleinen Fans wie Ronaldo flatterten damals verloren im Wind, die Anmerkungen der Lehrer darin wie aus einer sehr, sehr fernen Zeit. Dort oben grüßte unter einem eingestürzten Klassendach Minnie Mouse, am Eingang entbot den Besuchern Mickey Mouse ein „Bienvenue“ – herzlich willkommen. Die Nonnen um Schwester Lops und Schwester Gisèle waren nicht mehr ansprechbar, verstört, traumatisiert. Ihre Kapelle war stehen geblieben, 150 ihrer Schützlinge und mehrere Lehrer unter den Trümmern begraben. Tage, Wochen, Monate suchten die Nonnen und Angehörigen verzweifelt in dem schier undurchdringlichen Hut aus Steinen, Beton und Holz nach den kleinen Körpern. Sie fanden Kruzifixe und Weihnachtsdekoration, ein bisschen Spielzeug. Die meisten Leichen aber gab der Berg nicht mehr her.

Schließlich entschieden die Schwestern mit den Angehörigen und der Kindernothilfe, die Trümmer wegzuschaffen. Die, die überlebt hatten, sollten wenigstens eine Zukunft haben. Und das heißt: eine neue Schule. Im Mai hatten sie das Unglaubliche geschafft, ein flaches Plateau war entstanden. Mit ein paar Zelten, die Kindernothilfekoordinator Jürgen Schübelin damals mit viel Beharrlichkeit bei Unicef organisierte, begannen sie, wieder zu unterrichten. Ein Segen für alle, sagt Schwester Lops. Schon bald waren wieder 1000 Kinder da. Inzwischen stehen sechs Pavillons mit Zementfundament, Planen und Wellblechdächern auf dem Berg der kleinen Schwestern. Nun soll endlich die richtige Schule für die 1200 Kinder folgen, die hier in roten und blauen Uniformen unterrichtet werden.

Gedenken. Schülerinnen in Carrefour.
Gedenken. Schülerinnen in Carrefour.

© Ingrid Müller

Die Schwestern haben inzwischen wieder resolut das Management übernommen. Schwester Lops hat bei der Gemeinde einen Rabatt für die Steuern herausgehandelt, die sie zahlen müssen. Für die Kindernothilfe aus Duisburg ist der Wiederaufbau der Schule in Carrefour das größte Projekt seit ihrem Bestehen.

Schwester Gisèle vergießt keine Träne an diesem Gedenktag. Sie war an diesem Ort selber verschüttet gewesen, wie durch ein Wunder hatte sie überlebt, sich aus eigener Kraft aus den Trümmern befreit. Niemand hier weint. Ernst und gefasst sind die Gesichter. „Wir müssen uns erst einmal physisch und seelisch wieder aufbauen, bevor wir den materiellen Aufbau angehen können“, sagt der Pastor in seiner Rede.

Es sind bezeichnende Worte. Die ganze Gesellschaft in Haiti scheint paralysiert zu sein. Der erste Wahlgang war ein Fiasko, von Fälschungen und Betrug ist die Rede, der offizielle Bericht soll wegen des Jahrestages erst in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Hinzu kommen Unruhen und bewaffnete Überfälle. Das politische System, die Eliten, sie scheinen nicht in der Lage zu sein, den Aufbau in die Hand zu nehmen. Der Jahrestag, das große zentrale Gedenken vor der Kathedrale in Port-au-Prince, die Schweigeminute im ganzen Land, sie sind ein kurzes Innehalten im Chaos, im Wirrwarr.

Die Kinder an der Schule der kleinen Schwestern von St. Thérèse können für all das nichts. Da stehen sie beim Gedenken, in ihren blauen Schuluniformen und lila Schleifchen, und schweigen.

Aber sie haben wieder eine Schule. Und Lehrer. Wie den schmalen Jeanrélus Darélus. Der 29-Jährige Klassenlehrer war auch verschüttet, hat sich von den Verletzungen erholt und unterrichtet wieder. Letzten Donnerstag hat er geheiratet. Einen Moment lächelt er, als er das erzählt.

Und am Eingang der Schule leuchtet wieder Mickey Mouse, frisch gestrichen: Bienvenue. Herzlich willkommen.

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