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Ein Name, ein Symbol.

© TSP

Ein Aufschrei: Von der Last, Kevin zu heißen

Seinen Namen verdankt er einem irischen Heiligen. Später bezog unser Autor dafür Prügel. Das hatten seine Eltern nicht ahnen können. Ein Aufschrei.

Wenn Eltern ihrem Neugeborenen einen Namen geben, wollen sie alles richtig machen. Sie denken sich etwas dabei. Das war und wird immer so bleiben, egal ob sie in Burkina Faso leben oder in Pasewalk, ob sie Bach hören oder schon morgens gerne Bier trinken. Sie wählen einen Namen, der ihr Kind schützen soll, es schmücken, der auf eine ehrenvolle Tradition verweist oder etwas aussagen soll, ohne viele Worte zu verlieren. Auch meine Eltern wollten das. Sie nannten mich Kevin.

Das ist jetzt genau 34 Jahre her. Aber irgendwann auf dem Weg durch die Jahre ist mit meinem Namen etwas passiert. Auf den Punkt brachte es vor zwei Jahren eine anonyme Lehrerin, als sie von Forschern der Uni Oldenburg für eine Studie befragt wurde, und in Zeitungen mit dem Satz zitiert worden war: „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose.“ Ende August präsentierte die Uni dann eine Folgestudie: Da wurden 200 Grundschullehrern schriftliche Antworten auf Aufgaben aus dem Sachunterricht vorgelegt, sie stammten von einem Kind, waren aber mal mit dem Namen Maximilian unterschrieben, mal mit Kevin. Ergebnis: Die angeblichen Kevins wurden signifikant schlechter benotet.

Die Autoren wollten Vorurteile von Lehrern empirisch belegen. Um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, fiel ihnen offenbar kein stärker belasteter Name ein. Klar, Kevin steht heute synonym für die Null-Bock-Generation, für ritalingedämpfte Hyperaktivität, für Mathe „mangelhaft“, für Unterschicht.

Wie konnte das passieren? Dass etwas mit meinem Namen nicht stimmt, wurde mir vor sechs Jahren erstmals bewusst. Ich begann ein Praktikum bei einem Nachrichtenmagazin, da sagte die Sekretärin bei der Begrüßung am ersten Tag lachend: „Bei mir war gerade ein Redakteur und stöhnte: Oh Gott, er fühle sich so alt. Weil wir ja mit Ihnen jetzt erstmals einen Kevin ins Büro bekommen.“ Der Mann muss ein 15-jähriges Pickelgesicht erwartet haben. Ich war 28.

In diesem Moment wurde mir klar: Als Kevin habe ich meinen Ruf schon vor dem ersten Treffen weg: Teenager, ostdeutsch, Hauptschule – das sind die Assoziationen. Heute arbeite ich als Wirtschaftsredakteur beim Tagesspiegel. Am Telefon stelle ich mich meist mit vollem Namen vor. Manchmal habe ich dabei aber das Gefühl, dass Menschen am anderen Ende der Leitung irritiert sind – oder sich einen Spruch verkneifen. Einer Unternehmenssprecherin rutschte einmal ein „Sie Armer“ raus. Dann erschrak sie. Stammelte. Da mussten wir beide lachen.

Ich bilde mir das nicht ein. Bei Google gibt es schon mehr als 27 000 Treffer zum Suchwort „Kevinismus“. So bezeichnet man laut einem dieser Einträge, „die krankhafte Unfähigkeit von Eltern, menschlichem Nachwuchs menschliche Namen zu geben“. Die weibliche Form heißt übrigens „Chantalismus“.

Sind meine Eltern unfähig? Sicher nicht. Als sie mich im September 1976 beim Standesamt in Hamburg anmelden wollten, hatten sie ein ganz anderes Problem: Ich durfte zunächst nicht „Kevin“ heißen! Ahnte die Standesbeamtin, was für Probleme auf mich warten würden? Nicht direkt: „Kevin. Ist das männlich oder weiblich?“, fragte sie meine irische Mutter. Diese lebte damals kaum zwei Jahre in Deutschland und musste sich belehren lassen, dass man laut deutschem Gesetz anhand des Kindesnamens eindeutig das Geschlecht erkennen können müsse. „Kevin“ habe sie jedenfalls noch nie gehört, so die Beamtin.

Meine Mutter hat mir oft erzählt, wie empört sie darüber war: Ihr verstorbener Vater, mein Großvater, der 1912 in Dublin auf Kevin Walsh getauft worden war – hatte er das verdient? Er trug den in allen Milieus beliebten Namen des nach Patrick wohl größten irischen Heiligen, Saint Kevin von Glendalough, geboren 498 n. Chr. Der soll den Chronisten zufolge ein Mann gewesen sein, der lieber mit Tieren als mit Menschen sprach – was für mich definitiv nicht gilt. Kevin leitet sich aus dem Gälischen ab und bedeutet so viel wie „hübsch und anmutig von Geburt“. Das spricht für sich.

1912, im britisch besetzten Irland, war es quasi Patriotenpflicht jedes anständigen Katholiken, seinen Sohn nicht englisch Jack oder William zu nennen, sondern Brian, Patrick oder eben Kevin. Das diente der Abgrenzung. Und ich wiederum wurde einfach nur nach meinem zu früh verstorbenen Großvater benannt, der, wie Verwandte behaupten, einer der charmantesten, belesensten, redegewandtesten und großherzigsten Typen war, den sie kannten. Gott hab’ ihn selig. Aber die Frau vom Hamburger Amt blieb stur.

Jedenfalls mochte sie „Kevin“ nur genehmigen, wenn ich zusätzlich einen zweiten, eindeutig männlichen, Vornamen erhielt. Ich bekam den meines Vaters dazu und heiße nun Kevin Peter. Ohne Bindestrich. Hätten mich meine Eltern anstelle meines irischen, nach meinem deutschen Großvater Franz benannt, müsste ich heute in Berlin-Mitte keinen Hip-Vergleich scheuen.

Natürlich konnten meine Eltern 1976 nicht wissen, wie sich die Dinge entwickeln. Aber sie hätten etwas ahnen können, hätten sie auch mal den Sportteil der Zeitung gelesen: Im Jahr meiner Geburt spielte ein talentierter Fußballer des FC Liverpool Europa duselig: Kevin Keegan, heute 59, Spitzname: Mighty Mouse. Er wechselte ein Jahr darauf ausgerechnet in meine Geburtsstadt, zum Hamburger SV. In der Saison 1978/79 schoss er 17 Tore und machte den HSV zum Meister. Das ging damals komplett an mir vorbei, aber ich erinnere mich sehr wohl, wie ich als Knirps der ersten Klasse die steilen Treppen zum Schulbus hochstieg und der Fahrer mich fragte, wie ich heiße: „Ahh, Kevin. Doine Ältern sin’ Fäns, näch?“, freute er sich. Nee, waren sie nie. Ich hatte keinen Schimmer, wovon er sprach.

Um Kevin „Mighty Mouse“ Keegan wurde es mit den Jahren still. Und es passierte lange nichts, außer, dass mich einmal ein Junge auf dem Spielplatz ärgern wollte, als er sagte, Kevin sei ja wohl ein Mädchenname. Er hieß René. Und er wusste offenbar nicht um die unisexuelle Verwendung seines französischen Namens. Ich jedenfalls war mit mir selbst im Reinen. Auch noch am 17. Januar 1991 – vor fast 20 Jahren.

Da lief der Hollywood-Streifen mit dem Originaltitel „Home Alone“ in den deutschen Kinos an. In dieser Familienkomödie wird Kevin, ein hyperaktiver achtjähriger Unhold mit Topf-Haarschnitt und diabolischem Grinsen, von seiner Familie bei einem Weihnachtsausflug zu Hause vergessen. Der Film war weltweit ein Renner. Nur in Deutschland und Polen entscheiden sich die Marketing-Leute der Filmfirma, den Vornamen des Protagonisten in den Titel zu nehmen. „Kevin allein zu Haus“. Mit bösen Folgen für mein weiteres Leben.

Viele Tausend Eltern fanden diesen Bengel offenbar so witzig, dass sie mit ihren Babys zum Standesamt gingen und „Kevin“ in die Urkunde eintragen ließen. So stürmte mein Vorname 1991 auf Platz eins der männlichen Vornamenscharts. Ich selbst wurde in dem Jahr pubertierende 15 Jahre alt. Polnische Freunde haben mir berichtet, dass auch Eltern unserer östlichen Nachbarn kaum resistenter gegen „Kevin sam w domu“ waren: Kevin sei dort unter Teenagern ebenfalls recht häufig. Wie auch Dustin, wohl nach „Rain Man“ Dustin Hoffman – womit wohl auch mein Nachname oscarverdächtig beliebt ist. Kevin, Dustin. Nach 45 Jahren Kommunismus muss das in den Wendewirren für einige Eltern wie freies Amerika geklungen haben.

Die Folge aber ist, dass sich noch heute unschuldige Kinder darüber lustig machen. Irgendwann habe ich zum Beispiel erfahren, dass Laurenz und Luise, die Kinder einer Freundin, einen Running-Gag haben. Sie malen sich aus: „Wenn wir das nächste Mal Kevin besuchen, dann gehen wir kurz vor die Tür. Dann ist er ALLEIN ZU HAUS!“ Ein Brüller, der, wenn Kinder ihn bringen, von Pfiffigkeit zeugt, da der Film entstand, als sie noch nicht mal auf der Welt waren. <NO1>Wenn aber gestandene Erwachsene mir beim ersten Kennenlernen den Spruch „He he, Kevin allein zu Haus“ an den Kopf werfen, mich erwartungsvoll anblicken, auf ein Lachen warten, als seien sie die ersten, die entdeckt haben, dass ich ja wie der kleine Junge in einem Film heiße, dann muss ich mich fremdschämen.

Weniger komisch allerdings ist es, mich „Kevin Costner“ zu nennen. Ich kann nicht zählen, wie oft das schon passiert ist. Der Amerikaner erlebte mit rührseligen Filmen wie „Der mit dem Wolf tanzt“ und „Bodyguard“ Anfang der 90er Jahre seinen weltweiten Durchbruch und dürfte neben dem Kinostart von Teil 2, „Kevin – Allein in New York“ (1992), entscheidend dazu beigetragen haben, dass Kevin noch einige Jahre zu hoch in den deutschen Vornamencharts rangierte.

Die Ironie der Geschichte ist, dass Namensvetter Costner, heute 55, auch Turbulenzen um seinen Vornamen erlebt haben dürfte. Denn in den Staaten gibt es eine Form des Kevinismus, die sich zwar von der deutschen unterscheidet, soziologisch aber vergleichbar ist – und zudem besser empirisch erforscht. So gab es bis Anfang der 70er Jahre in den USA das Phänomen, dass viele Amerikaner schwarzer Hautfarbe ihren Kindern weiß klingende Namen gaben, um sie vor der rassistischen Stigmatisierung zu bewahren. Das hatte einen praktischen Hintergrund, da Bewerbungsschreiben bis heute in der Regel ohne Foto eingeschickt werden. Bewerber mit Vornamen der besser etablierten irischen oder britisch-protestantischen Bevölkerung hatten nachgewiesenermaßen bessere Chancen, zum Gespräch eingeladen zu werden als Schwarze.

Das führte dazu, dass in den USA Vornamen wie Kevin, Brian oder James in einer Generation zu „schwarzen Namen“ wurden. Seit Mitte der 70er Jahre steigt dort nachgewiesenermaßen der Trend zur namentlichen Rassentrennung wieder, was erschrecken mag, Forscher aber mit dem steigenden Selbstbewusstsein der Black Community begründen.

Analog dazu könnte man für Deutschland soziologisch argumentieren, dass bildungsferne Eltern ein derart großes Klassenbewusstsein haben, dass sie ihren Kindern ausdrücklich Namen geben, die eindeutig ihrer Schicht zuzuordnen sind. Führende Experten der Onomastik, der Namensforschung, liefern eher eine triviale Erklärung ab: „Der Lebensalltag der Eltern spiegelt sich im Namen ihrer Kinder wieder“, sagte Peter Ernst, Professor für Onomastik an der Uni Leipzig, unlängst einer Zeitung. „Und weil sogenannte bildungsferne Eltern viel fernsehen, nennen sie ihre Kinder wie Filmstars. Gebildete Eltern wählen dagegen Vornamen von historischen Musikern und Dichtern.“

Heutige Musiker, Dichter und Spaßvögel wiederum ziehen meinen schönen, guten, uralten, irischen Namen durch den Dreck, um ihrem Publikum aus der Mittelschicht einen billigen Lacher auf Kosten der Unterschicht zu liefern. Der Neuköllner Comedian Kurt Krömer pflegte lange so einen Witz. Sobald er auf der Bühne einen Hänger hatte, schrie er hinter die Kulissen seine fiktiven Kinder an: „Schantaaaall, du alte Kackbratze! Lass das, Kevin!“

Wenn ich Bekannten erzähle, dass meine Mutter Irin ist, dass ich selbst zwei Staatsangehörigkeiten besitze, dann erlebe ich oft herzliche Reaktionen. Wohl, weil ich bei meinem Gegenüber den Groschen fallen lasse, ihn von dem Rätsel befreie, nach dessen Lösung er mich nie zu fragen getraut hat: Warum heißt Du so, bist aber so... ähm.... alt?

Ein Fußballer, ein Film und ein Schauspieler – ihnen habe ich also zu verdanken, dass mein Name nach IQ knapp über Toastbrot klingt. Wahrscheinlich ist das einfach nur Pech. Aber vielleicht behält das Chanson-Duo „Pigor & Eichhorn“ Recht, das in einem Refrain singt: „Dass es wieder aufwärts geht, weißt Du, wenn der erste Bundeskanzler Kevin heißt.“

Vor knapp einem halben Jahr bin ich selbst zum ersten Mal Vater geworden. Auch meine Frau und ich wollten alles richtig machen. Wir suchten einen Namen, der nicht zu häufig ist, der keine orthografischen Rätsel aufwirft und der international verständlich ist. Er ist, wie wir finden, ein schöner Name, der hier nicht verraten wird. Unsere größte Sorge ist, dass ein Regisseur einen Film mit ihm betitelt

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