zum Hauptinhalt

Chemieunglück: Seveso in Ungarn

Als Kind spielte Adrienn Fuchs auf den Dämmen der Rotschlammbecken von Kolontár. Dann fing sie an, Fragen zu stellen, und lief gegen eine Mauer des Schweigens. Jetzt hat sie ihre Großmutter und ihr Heimatdorf in der giftigen Flut verloren.

Adrienn Fuchs schiebt die Schutzmaske auf die Stirn und ruft. „Ciza! Ciza!“ Die zarte Stimme geht im Dröhnen der Bulldozer unter. „Vielleicht hat sie sich in einen Baum gerettet“, sagt die junge Frau und ruft noch einmal nach ihrer Katze. „Ciza! Ciza!“ Die Luft beißt. Adrienn Fuchs zieht die Atemmaske wieder über den Mund. In Fischerhose und Regenparka stapft die zierliche 29-Jährige weiter über das Stück Land, das einmal ihr Zuhause war. Am Gartenzaun entlang, der wie glattgebügelt daliegt, zu einem Haufen Balken und Bretter, die kürzlich noch ein Schafstall waren. Vielleicht versteckt sich die Katze ja hier. „Ciza!“

Behutsam balanciert die junge Frau eine Schale Milch vor sich her. Mit jedem Schritt versinken die Gummistiefel knöcheltief in stinkendem Schlamm, der über dem Grundstück ihrer Eltern liegt. Auf seinem Weg durchs Dorf riss er eine Brücke ein und schob Bahngleise aus ihrem Bett. Parkende Autos trieb er kilometerweit in die Maisfelder. 40 Hektar Land liegen unter dem rotbraunen Schlick begraben, der eine halbe Woche nach dem Unglück auszuhärten beginnt. Mindestens sieben Menschen kostete die Welle das Leben. Unter den Opfern ist Adrienns Großmutter.

Wenn man auf der Veranda des kleinen Hauses von Adrienns Eltern in der Ortschaft Kolontár steht, kann man es deutlich sehen, das riesige Leck im Damm. Nicht mehr als 400 Meter sind es von hier bis zu dem turmhohen, geborstenen Wall. Dahinter lagerte über Jahre ätzende Industrieschlacke, ein Abfallprodukt der Aluminiumproduktion. Zuletzt sollen es bis zu eine Million Kubikmeter gewesen sein, ein rostroter See, der bei starkem Wind über die Ränder schwappte wie Suppe in einem kochenden Topf. Als der Damm am Montagmittag brach, ergoss sich eine mannshohe Schlammflut mit 50 Kilometern pro Stunde über die Dörfer Devecser und Kolontár.

Das Haus der Familie Fuchs erwischte es als erstes. Die Welle rollte mit einer solchen Wucht heran, dass sie nicht einmal die Glasscheibe aus der Haustür gedrückt hat. Sie hat gleich die ganze Tür aus den Angeln und quer durch das Wohnzimmer gesprengt. „Es ist ein Glück, das meine Eltern nicht zu Hause waren“, sagt Adrienn. Die Mutter war bei einer Cousine. Der Vater arbeitete auf dem Feld und wäre wohl weggespült worden, wenn er die Schlammflut nicht rechtzeitig bemerkt hätte. Mit einem beherzten Tritt aufs Gaspedal konnte er seinen Traktor im letzten Moment auf einen Hügel lenken.

Adrienn selbst lebt mit ihrem Freund Arpad im 150 Kilometer entfernten Budapest. Als der Anruf kam, sind die beiden sofort ins Auto gesprungen. Kurz nach ihrer Ankunft fand man die Großmutter an einer Böschung, 100 Meter von ihrem Haus entfernt. Niemand weiß, wo die Flutwelle die 82-Jährige überrascht hat, vielleicht war sie auf der Straße, vermutlich ist sie ertrunken.

850 Menschen lebten hier. Am Samstag haben die ungarischen Behörden Kolontár evakuiert. Die Gesundheitsgefährdung durch die im Staub aufwirbelnden Stoffe sei zu groß, hieß es. Außerdem droht ein weiterer Damm zu brechen.

Bevor sie in Bussen abtransportiert wird, sucht die Bevölkerung in den Trümmern noch nach den letzten Resten ihres Lebens, auch das junge Paar streift wie benommen durch das Dorf, in dem Adrienn aufgewachsen ist. Mit leerem Blick schaut sie, wie ein Heer von Helfern in weißen Schutzanzügen die Straßen und Gärten ihrer Kindheit demontiert. Es sind Freiwillige und Soldaten, die die giftige Masse aus Kellern schaufeln und Trümmer aus Gärten räumen. Feuerwehrleute treiben Kettensägen in die Pflaumenbäume am Straßenrand. Bagger reißen Gartenmauern ein und heben Schutt auf Lastwagen. Und dazwischen eine Schale weißer Milch. Für den Fall, dass die Katze doch noch auftaucht.

In Arpads Armen stapeln sich Dokumente, das wenige, was sich zu retten lohnt. Plötzlich bleibt seine Freundin stehen, deutet auf eine Toreinfahrt. „Dort hat meine Großmutter gelebt.“ Bis unters Dach sind die Wellen geschlagen und haben ein wildes Gemälde auf der Fassade hinterlassen. Rotbraune Spitzenvorhänge flattern aus zerbrochenen Scheiben. Adrienn schleicht in den Hof, steigt langsam die Stufen zur Haustür hinauf und bahnt sich ihren Weg durch das Chaos zu den Fotos an der Wand. Eins zeigt sie als Kind auf dem Schoß der Oma. Ein anderes als großes Mädchen, strahlend, von Vater und Mutter eingerahmt. Quer darüber verläuft die rotbraune Kante, die jetzt jedes Haus ziert, innen wie außen.

Kolontár ist ein verschlafenes Nest, 50 Kilometer nördlich vom Ufer des Balaton. Von den Touristenströmen, die den See im Sommer erreichen, bekommt man hier nichts mit. Im Gegenteil: Vor hundert Jahren begann man in diesem Landstrich mit Braunkohleabbau, später kamen eine Bauxitmine und ein Aluminiumwerk hinzu. Nach dem Krieg wollte Ungarn zur Industrienation aufsteigen, die Betriebe wurden verstaatlicht, expandierten, ernährten die Menschen in der Umgebung. Auch der Vater von Adrienn schuftete mehr als zehn Jahre lang im Aluminiumwerk. Seit er an Krebs erkrankt ist, bezieht er eine magere Frührente, die er sich mit etwas Landwirtschaft aufbessert. Heute gibt es kaum Arbeit in der Region, weder in der Aluminiumfabrik noch in der Bauxitmine. Wer kann, fährt auf Montage Richtung Westen, Wien erreicht man in drei Stunden.

Als kleines Mädchen hat Adrienn zwei Dinge gelernt: In dem Bach, der durch ihr Dorf fließt, darf man baden. In den roten Seen, die aus den Korn- und Kohlfeldern wuchsen wie Vulkane, nicht. Wenn ihr Vater mal wieder das Fundament für ein neues Schlammbassin planierte, fuhr sie auf dem schweren Gerät mit. Sie solle Abstand halten zu der Brühe, sagte er. Eine Kindheit zwischen Wald, Wiesen und Giften – das hat Fragen in Adrienns Kopf gepflanzt. Als Jugendliche wollte sie eine Schularbeit über das Aluminiumwerk, die MAL AG, schreiben, doch an wen sie sich auch wandte, sie erhielt keine Antworten. Informationen? Fehlanzeige. Niemand wollte reden. Da war Ungarn seit zehn Jahren ein freies Land.

Wenn man die Menschen von Kolontár heute fragt, ob sie sich nicht unwohl gefühlt hätten im Schatten der Giftmüllkippe, zucken sie mit den Schultern. Schon, ja. Aber was sollte man tun? 1986, flüstert ein ehemaliger Aluminiumwerker, habe es schon mal ein Unglück gegeben. Ein Becken mit weißer, alkalischer Flüssigkeit lief aus, viel kleiner damals als das jetzt, aber die betroffenen Felder lagen über Jahre brach. Der Fall wurde nie untersucht.

Dann sagt der Mann noch, dass sein Name auf keinen Fall in der Zeitung stehen soll. Das alte System wurde vor 20 Jahren beerdigt, die Eigentümer des Aluminium-Unternehmens MAL zählen zu den reichsten Familien des Landes, die Angst zu reden lebt weiter.

Adrienn hatte genug von dem Schweigen. Sie ging nach der Schule in die Hauptstadt und studierte erst Biologie, dann Journalismus. Heute arbeitet sie für Umweltmagazine. Das Becken hinter ihrem Elternhaus ließ sie nie in Ruhe. „Als ich vor einem halben Jahr hier war, bin ich noch da raufgeklettert.“ Sie hatte gehofft, das Reservoir wäre vielleicht schon geschlossen worden. Nun machen sie die Geschichten, die sie auf dem Weg durchs Dorf hört, sprachlos. Wie die von dem alten Ehepaar Lehmann, das im Badezimmer von der Flut überrascht wurde. Als die Welle kam, stieg Sandor Lehmann auf den Wannenrand und hob seine Frau Iren auf einen kleinen Fenstersims. Anderthalb Stunden lang stand er da, bis zu den Knien im Schlamm, und hielt sie fest. Als der Pegel sank, waren seine Beine bis auf das Fleisch verbrannt. Heute, zwei Tage später, feiert er seinen 81. Geburtstag. „Nicht mal ein Taschentuch konnten wir mitnehmen“, sagt Sandor Lehmann. „Aber wir leben, nur das zählt.“

Oder die Geschichte von Balázs Holczer, dessen Frau bis zum Bauchnabel im Schlamm stand, als sie ihn anrief um sich für immer zu verabschieden, wie sie dachte. In einer Hand hielt sie das Telefon, mit der anderen hob sie ihr Baby in die Höhe. Beide haben überlebt, sie mit schweren Verbrennungen.

Niemand weiß, wie es weitergehen soll in Devecser und Kolontár. Györgyi Töttös vom Nationalen Katastrophenschutz sagt, man müsse den gesamten Boden abtragen, vielleicht 20 Zentimeter, vielleicht 50, sie kann es nicht sagen. Karoly Tilli, der Bürgermeister von Kolontár sagt, wer ein neues Haus möchte, der bekommt es. Balász Tömöri von Greenpeace sagt, der PH-Wert des Schlamms liege bei mindestens 12. Zudem enthalte er möglicherweise Schwermetalle wie Blei, Quecksilber und Arsen, die der Wind nun in alle Himmelsrichtungen trage. Auch was die Katastrophe für Grundwasser und Donau bedeutet, ist ungewiss.

Und dann ist da noch Ferenc Pad, Betriebsratsschef der MAL AG, der durch Kolontár spaziert und sagt, vom Schlamm gehe keine größere Gefahr aus. Jedenfalls nicht mehr als von Bleichmittel, alles andere sei Hysterie. Auf ihrer Website spricht seine Firma den Angehörigen der Opfer der „Naturkatastrophe“ ihr Beileid aus. Den Opfern ist eine Soforthilfe von umgerechnet 360 Euro versprochen. Noch 2009 belief sich der Umsatz des MAL-Konzerns auf hundert Millionen Euro.

Bis die Regierung Busse schickt, um sie wegzubringen, sind Adrienn, Arpad und die Eltern bei Bekannten untergekommen. Vom Fenster aus sehen sie die Menschenkette, die Lebensmittel aus einem Lastwagen ins Kulturhaus befördert. Und die Übertragungswagen der TV-Sender, die Bilder aus Kolontár um die Welt schicken. Am nächsten Tag wird das Dorf geräumt und die Familie fährt zu Bekannten, ein paar Kilometer weiter. Hier erreicht Adrienn die Nachricht, man habe fünf Katzen gefunden. „Vielleicht“, sagt sie, „ist Ciza dabei.“

Mathias Becker

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false