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Die katholische Kirche in Deutschland steckt in einer tiefen Krise.

© imago images/Silas Stein

Buch eines Ex-Klerikers, Studie zu sexueller Gewalt: Die gewaltigen Probleme der katholischen Kirche

Das Buch eines ausgetretenen Klerikers und eine Studie zu sexueller Gewalt an Minderjährigen beleuchten die gewaltigen Probleme der katholischen Kirche.

Von Caroline Fetscher

Andreas Sturm hat zügig gehandelt. Mitte Mai verließ der Generalvikar von Speyer, Stellvertreter des Bischofs, sein Amt und trat aus der katholischen Kirche aus. Kurz darauf kündigte er an, ein Buch zu schreiben. Jetzt, Mitte Juni, ist das Buch da. Der Titel bringt die Botschaft auf den Punkt: „Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will.“ Vom Cover blickt der 47-jährige Pfälzer durch seine Brille entschlossen nach vorn, graue Schläfen, weißes Hemd, ein kleines Kreuz aus Silber am schwarzen Sakko. Daneben heißt es: „Ein Generalvikar spricht Klartext“.

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Manchen Römisch-Katholischen geht das Auftauchen des Klartextes zu schnell, verdächtig schnell. So wurde Sturm vorgeworfen, er nutze sein prominentes Rücktrittsszenario, um einen Bestseller anzufachen. In einem Interview mit dem Portal katholisch.de verteidigt sich der Geistliche und offenbart seine Frustration durch die verkrusteten Strukturen des vom Vatikan gelenkten Apparats, seine Irritation und Verzweiflung über den Umgang mit sexualisierter Gewalt, mit gleichgeschlechtlicher Liebe, und seine Kritik am Zölibat, das er, wie er einräumt, gebrochen habe: „Es gab in meinem Leben Beziehungen“. Die erste Zeit nach seinem Austritt sei für ihn eine „emotionale Achterbahnfahrt“.

Zwischen 1945 und 2020 waren 4,49 Prozent aller Kleriker im Bistum mutmaßliche Täter

Sturms Veröffentlichung fällt zusammen mit der Bekanntgabe der Ergebnisse einer erschütternden Studie zum Bistum Münster durch die dortige Universität. Nach deren Erkenntnissen soll das Ausmaß der dort verübten und vertuschten Fälle sexualisierter Gewalt an Minderjährigen weitaus größer sein, als angenommen. Das Forscherteam, das zwei Jahre lang Akten studierte und Befragungen vornahm, zählt 610 Betroffene, zur Tatzeit meist zwischen zehn und 14 Jahren. 196 mutmaßliche Täter sollen in der Spanne zwischen 1945 und 2020 aktiv gewesen sein – jeder ein Drittel Beschuldigter mehr als in der Studie von 2018 der Deutschen Bischofskonferenz. 4,49 Prozent aller Kleriker im Bistum Münster waren demnach mutmaßliche Täter in jenem Zeitraum.

Mit Dunkelziffer geht das Team von 5000 bis 6000 Opfern aus. Der amtierende, 72 Jahre alte Bischof Felix Genn habe Jahre gebraucht, um mehr Verantwortung für Intervention und Prävention zu übernehmen. Er selber sage, er sei Beschuldigten „zu sehr als Seelsorger und zu wenig als Dienstvorgesetzter“ begegnet.

Die Studie dürfte Andreas Sturms Eindruck von der kirchlichen Unbeweglichkeit nur bestätigen. Sein Buch, Abschiedsbrief, Anklage und Weckruf in einem, weist auf just die Probleme, die mit der der aktuellen Münsteraner Studie ans Licht kommen – wie in vorherigen Studien, etwa jener zum Erzbistum Köln.

Der ehemalige Generalvikar Andreas Sturm ist aus der katholischen Kirche ausgetreten.
Der ehemalige Generalvikar Andreas Sturm ist aus der katholischen Kirche ausgetreten.

© dpa

Andreas Sturm erklärt, er habe mit der Zeit „die Hoffnung und Zuversicht verloren, dass sich die römisch-katholische Kirche wirklich wandeln“ könne, wolle aber nicht jenen die Hoffnung nehmen, die sich am reformorientierten Synodalen Weg beteiligen. An sich ist Sturm genau der Typus von Nachwuchskraft, den die katholische Kirche dringend benötigt, weltoffen, innovativ, engagiert, couragiert. Er studierte in Deutschland und in den USA Theologie, ließ sich in New York in klinischer pastoraler Seelsorge fortbilden, und wurde 2010 Leiter des Bischöflichen Jugendamtes. 2021 hatte er in Speyer angekündigt, künftig auch queere Paare zu segnen. „Ich habe Wohnungen, Autos, Fahrstühle, unzählige Rosenkränze und so weiter gesegnet“, hatte Sturm erklärt, „und soll zwei Menschen nicht segnen können, die sich lieben? Das kann nicht Gottes Wille sein.“ Sturms Austritt hatte der Speyerische Bischof Karl-Heinz Wiesemann als „gewaltigen Schock“ bezeichnet. Er war und ist ein weiteres Symptom der Krise der Kirchen.

Wie das kleine Kreuz am Kragen zeigt, hat Andreas Sturm zwar den Glauben an die Institution verloren, nicht aber jenen an den Gott der Bibel. Inzwischen ist er der Altkatholischen Kirche beigetreten, und wird als Priester in der Region Bodensee wirken. Die Glaubensgemeinschaft, die 60 Gemeinden in der Bundesrepublik unterhält, entstand 1872 aus Protest gegen das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes im Ersten Vatikanischen Konzil. „Altkatholiken“ nannten sie sich, da sie sich gegen die Neuerung wehrten. Paradoxerweise sind sie in vielem besonders neu, respektive modern. Bei ihnen gibt es kein Zölibat, keine Ohrenbeichte und kein Sonntagsgebot. Homosexuelle und Geschiedene werden nicht diskriminiert, Frauen sind zugelassen zum Weihesakrament. In der Schweiz haben sie soeben die „Ehe für alle“ beschlossen.

Sturm wollte nicht mehr mit den Widersprüchen im Amt leben

Der Kirchenexperte Andreas Püttmann nennt Sturms Wechsel einen „Paukenschlag“ für die Rolle der katholischen Kirche in einer modernen, liberalen Gesellschaft. Sturm mache mit dem Übertritt auch die Altkatholische Kirche bekannter, die nun mehr Zulauf bekommen könnte. Auf die Frage von katholisch.de, nach Vorwürfen, wonach Sturm mit einer „PR-Aktion“ für sein Buch „Kasse machen“ wolle, reagierte der Autor gelassen. Finanzielle Einbußen durch den Verzicht auf seine Pension würden „durch die Buchverkäufe nicht mal ansatzweise aufgewogen.“ Er habe, so Sturm, schlicht nicht mehr mit den Widersprüchen im Amt leben wollen: „Diese innere Zerrissenheit war jeden Tag da und hat mich enorm belastet.“ Sein Buch schildert er als eine Art Schlussdokument einer langen Phase wachsender Entfremdung, die ihm im Rückblick klar wurde.

Vor allem auf den Reformstau wolle er weisen, sagt Sturm. Damit ist er nicht allein, Proteste machen einen wahren Reformstaudamm sichtbar. Darauf, dass dieser Damm bricht, hoffen Abertausende, die etwa an den Debatten des Synodalen Wegs teilnehmen. Sie glauben daran, dass Dogmen sich lockern können, dass Starres flüssig werden kann. Andreas Sturm erklärt, er wünsche der Kirche, an der er nach wie vor hänge, alles Gute: „Nur ohne mich.“

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