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Triumphiert. Boris Johnson verkündet einen symbolischen Sieg über die EU. Er hat schon immer gesagt, ohne die EU sei London schneller und besser.

© AFP

Briten genehmigen Biontech-Impfstoff als Erste: Spätere Zulassung in der EU könnte sich als Vorteil entpuppen

Großbritannien hat als erstes Land den Covid-19-Impfstoff von Biontech zugelassen und will schnell mit dem Impfen beginnen Das kann auch ein Nachteil sein.

Der 2. Dezember 2020 wird als ein historischer Tag der Impfstoffentwicklung in Erinnerung bleiben. Und nicht nur, weil an diesem Mittwoch die erste Schutzimpfung gegen Covid-19, der Wirkstoff BNT162b der Mainzer Biotechfirma Biontech, eine offizielle Zulassung bekommen hat – wenn auch vorerst nur in Großbritannien und auch nur „bedingt“ und zeitlich befristet.

Auch nicht, weil es die mit weitem Abstand schnellste Entwicklung und Prüfung eines wichtigen Arzneimittels war – statt wie sonst Jahre und Jahrzehnte brauchte Biontech keine elf Monate. Die eigentliche Sensation ist, dass eine völlig neue Art von Impfstoff zum weltweit allerersten Mal zugelassen wurde: ein Vakzin auf Basis von RNA.

Damit hat eine vergleichsweise günstige und schnelle Arzneimitteltechnologie die Reifeprüfung bestanden, mit der künftig nicht nur Covid-19, sondern viele weitere bisher unzureichend behandelbare Krankheiten verhindert oder therapiert werden könnten.

Die ersten Eilmeldungen am Mittwochvormittag jedoch betonten die vermeintliche Vorreiterrolle Großbritanniens, das jetzt „Erster beim Einsatz der Vakzine“ sei, so Alok Sharma, Staatssekretär für Wirtschaft, Energie und Industriestrategie der Johnson-Regierung, auf Twitter.

Der deutsche Botschafter in London, Andreas Michaelis, fragte irritiert, warum es so schwer sei, diesen „wichtigen Schritt voran als großartige internationale Anstrengung anzuerkennen“. Es handele sich eben nicht um eine „nationale Geschichte“. Ungeachtet dessen, dass die deutsche Firma Biontech den entscheidenden Beitrag geleistet habe, sei dieser Erfolg vielmehr „europäisch und transatlantisch“.

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Die EU will spätestens bis 28. Dezember über eine Zulassung entscheiden

15 Millionen Impfstoffdosen werde Biontech bis Monatsende verteilen können, sagte Sean Marrett, Geschäftsführer der Firma, am Mittwoch. Teile davon werde Großbritannien nach der jetzt erfolgten Zulassung aus einem Lager in Belgien geliefert bekommen, aber auch andere Länder werden einen „fairen Anteil“ bekommen, versicherte Marrett – Zulassung vorausgesetzt. In den USA soll die Zulassungsbehörde FDA bis spätestens 10. Dezember entscheiden, die europäische EMA hat bis 28. Dezember Frist – frühere Beschlüsse nicht ausgeschlossen.

Doch im „Rennen“ um eine „Herdenimmunität“ – also eine hinreichend immunisierte Bevölkerung, die weitere Virusverbreitung verhindert – spielen ein paar Tage oder Wochen Vorsprung im Grunde keine Rolle. Entscheidend sei, sagte Biontech-Gründer und Impfstoffentwickler Ugur Sahin, dass möglichst viele Menschen geimpft werden, damit die für eine Herdenimmunität erforderliche Anzahl von etwa 60 bis 70 Prozent immunisierter Bevölkerung erreicht werden könne.

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Ein etwas späterer Start könnte sich womöglich sogar als (auch finanzieller) Vorteil erweisen. Denn bisher kann Biontech die Unversehrtheit des Impfstoffs nur garantieren, wenn die Flüssigkeit in den Fläschchen ununterbrochen bei minus 70 Grad Celsius gekühlt wird.

Das erfordert spezielle Container beim Versand und teure Spezialtiefkühltruhen in den Impfzentren. Erst kurz vor Verbrauch können die Chargen aufgetaut werden und dann bis zu fünf Tage bei Kühlschranktemperatur von zwei bis acht Grad Celsius aufbewahrt und verabreicht werden.

Impfen gegen Covid-19. Hier mit einem Impfstoff von Biontech und Pfizer.
Impfen gegen Covid-19. Hier mit einem Impfstoff von Biontech und Pfizer.

© via REUTERS

Doch diese Vorgabe sei der Tatsache geschuldet, dass Studien, in denen geklärt werden soll, ob der Impfstoff auch bei höheren Temperaturen verschifft und gelagert werden kann, noch andauern, sagte Sahin auf Nachfrage des Tagesspiegels. „Wir hoffen, im Januar, Februar mehr Daten zu bekommen, die es uns erlauben, die Bedingungen für den Transport und die Lagerung des Impfstoffs zu lockern.“

Der Grund dafür, dass diese Daten jetzt noch nicht vorliegen, sei, dass der Impfstoffkandidat BNT162b im Juli als einer unter mehreren ausgewählt wurde und für diesen noch keine genauen Stabilitätsstudien vorlagen, man die Studie aber dennoch so rasch wie möglich beginnen wollte. Sahin geht davon aus, dass es „keine großen Unterschiede“ zwischen den drei RNA-Impfstoffen von Moderna, Curevac und Biontech bezüglich der Kühlbedingungen geben dürfte, doch dafür brauche es die Daten aus den Studien.

Vorteile einer späteren Massenimpfung

Ein weiterer Vorteil davon, nicht das erste Land zu sein, in dem die Massenimpfungen beginnen, dürfte auch das noch begrenzte Wissen über Nebenwirkungen und das genaue Wirksamkeitsprofil sein. Bisher gebe es „keine Sicherheitsbedenken“ und keine Hinweise auf geschlechts-, alters- oder ethnisch bedingte Unterschiede in der Wirksamkeit, sagte Özlem Türeci, Medizinische Leiterin von Biontech, selbst erfolgreiche Biotech-Gründerin und Sahins Frau.

Das Vakzin werde „gut vertragen“, es seien nur übliche Reaktionen beobachtet worden, wie leichte Muskelschmerzen an der Einstichstelle, vier Prozent der Probanden berichteten über Müdigkeit, zwei Prozent hatten Kopfschmerzen. Fast alle Probanden (98 Prozent) kamen zur zweiten Impfung zurück. „Die Probanden werden zwei Jahre lang weiter untersucht“, betonte Türeci, erst dann seien auch Aussagen über die längerfristige Unbedenklichkeit des Impfstoffs möglich.

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Wohlgemerkt: Bei jedem neu zugelassenen Impfstoff fehlen zunächst Informationen über Spätfolgen oder eventuelle sehr seltene Nebenwirkungen, die also erst bei einem von 100 000 oder gar einer Million Geimpfter auftreten.

Doch selbst wenn sich im Verlauf der Impfkampagne einige wenige Fälle ursächlich auf die Impfung zurückführen lassen sollten, wofür es bisher keine Hinweise gibt, könnte die gesamtgesellschaftliche Nutzen-Risiko-Abwägung dennoch für eine Fortsetzung der Impfungen sprechen – angesichts des weit höheren Risikos, schwer an Covid-19 zu erkranken oder gar zu sterben.

Wann der Biontech-Impfstoff und diejenigen von Moderna, AstraZenaca und weiteren Herstellern das „normale“ Leben vor Corona wiederherstellen können, konnten Türeci und Sahin nicht sagen. Das hängt auch davon ab, ob der Impfstoff nur den Ausbruch der Krankheit oder schon die Infektion verhindert – oder zumindest die Infektiosität des Geimpften stoppt. Mit den dafür nötigen Informationen aus den laufenden Studien sei jedoch frühestens in drei bis sechs Monaten zu rechnen, sagte Sahin.

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