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Trostlos. Mehr als 2500 mittellose Familien haben sich in Guernica auf einem ungenutzten Areal niedergelassen, das bald geräumt wird.

© A. Marcarian/REUTERS

Argentiniens Absturz: Kaum etwas zu essen und ein Dach überm Kopf

Argentinien erlebt in der Coronakrise einen verheerenden Absturz: Viele Menschen aus der Mittelschicht verarmen – und die Zahl der Toten steigt.

Aus der Vogelperspektive betrachtet ist das grüne Areal übersät mit tausenden kleinen Punkten. Unten auf Argentiniens Erde bedeutet jeder dieser Punkte ein menschliches Drama.

Mehr als 2500 mittellose Familien haben sich in Guernica auf einem weitgehend ungenutzten Grundstück niedergelassen und das Areal besetzt.

Unter einfachen Zeltplanen suchen sie Schutz für ihre wenigen Habseligkeiten. Hier auf der Wiese im Großraum Buenos Aires, ist die neue und alte argentinische Armut am ehesten mit Händen zu greifen. Zumindest noch ein paar Tage, dann soll das Grundstück geräumt werden, falls nicht doch noch irgendeine Verhandlungslösung gefunden wird.

41 Prozent der Argentinier gelten als arm

Argentiniens Absturz ist verheerend: Laut Nationalem Statistik-Institut gelten inzwischen rund 40,9 Prozent der Bevölkerung oder 18,5 Millionen Argentinier als arm. Tendenz steigend. Die im Vergleich zum Vorjahr um fünf Prozent gestiegene Massenarmut ist eine direkte Folge des strengen wochenlangen Lockdowns mit dem Argentiniens Präsident Alberto Fernandez die Corona-Pandemie eigentlich in den Griff bekommen wollte.

Doch damit wurde die Ausbreitung des Virus offenbar nur aufgeschoben. Inzwischen explodieren die Zahlen: Am Wochenende stieg die Zahl der Toten auf 21.018. In der Tabelle der Todesfälle pro 100.000 Einwohner marschiert Argentinien inzwischen stramm nach oben und zählt nun zu den 20 am härtesten betroffenen Ländern. Ehemalige Hotspot-Länder wie den Iran hat Argentinien längst hinter sich gelassen, in dieser Woche dürfte wohl auch Frankreich leider übertroffen werden.

Für Fernandez ist das ein Riesenproblem. Er hat im Dezember 2019 seine Amtszeit mit dem Versprechen begonnen, die Armut und den Hunger zu besiegen. Mit Ex-Präsidentin Cristina Kirchner, die das Land von 2007 bis 2015 regierte und nun als Vize-Präsidentin im Hintergrund die Fäden zieht, wollte Fernandez Argentinien aus einem Teufelskreis aus Staatsschulden, abgehängter Wirtschaft und sozialen Konflikten herausholen.

Der Präsident flüchtet sich in Durchhalteparolen

Doch nun sieht alles noch viel schlimmer aus. Fernandez bleibt derzeit nur sich in Durchhalteparolen zu flüchten, während um ihn herum das Land auf eine soziale Apokalypse zusteuert. „Ohne staatliche Hilfe wäre die Lage noch viel schlimmer“, sagt der Präsident. Erzbischof Victor Fernando Fernandez sagt: „Die neuen Armen gehörten bis vor kurzem zur Mittelklasse, viele von ihnen waren Facharbeiter und Kleinunternehmer, die plötzlich unter die Armutsgrenze gerutscht sind.“

Präsident Fernandez reagiert auf die argentinische Realität mit Wunschvorstellungen, die für die Betroffenen kaum greifbar sind. „Ich möchte eine Gesellschaft wie die schwedische, die finnische, die norwegische, in der es egalitäre Entwicklungsbedingungen gibt.“

Zunächst aber bräuchten seine Landsleute etwas zu essen und wie in Guernica ein Dach über dem Kopf. Derweil kümmert sich Vize-Präsidentin Cristina Kirchner um eine Justizreform, von der die Opposition sagt, sie diene nur dazu, Kirchner und ihren Familienclan von laufenden Korruptionsermittlungen reinzuwaschen.

Eine Familie sitzt vor einer behelfsmäßigen Hütte in einer informellen Siedlung.
Eine Familie sitzt vor einer behelfsmäßigen Hütte in einer informellen Siedlung.

© Natacha Pisarenko/AP/dpa

Obendrein versuchte die Regierung auch noch unbequeme Richter loszuwerden. Kirchner ist während ihrer politischen Laufbahn zur Multimillionärin und Großgrundbesitzerin aufgestiegen, nach ihren eigenen Angaben ist dabei alles mit rechten Dingen zugegangen.

Ihr Sohn Maximo, der als Erbe der Polit-Dynastie als möglicher Präsidentschaftskandidat gilt, hat sein Millionen-Vermögen im vergangenen Jahr um 50 Prozent steigern können. Die Konsequenz: Die im Wahlkampf Ende 2019 erfolglose konservative Opposition schöpft neuen Mut und organisiert bereits wieder Auto-Karawanen als Protest.

Einen Staatsbankrott konnte die Regierung abwenden

Immerhin konnte die Fernandez-Regierung nach langen Verhandlungen einen Staatsbankrott abwenden. Ein Großteil der Schulden sei bereits umstrukturiert worden, erklärte Wirtschaftsminister Martín Guzman. Den Staat plagen Auslandsschulden in Höhe von 66 Milliarden US-Dollar.

Die Argentinier flüchten angesichts der Inflation wieder einmal in die Parallelwährung Dollar, wenn es auf dem Schwarzmarkt überhaupt welche gibt. Das Schlimmste: Fernandez hat bislang keinen überzeugenden Plan vorgelegt, wie sein Land aus der Krise kommen soll.

Unterdessen spitzt sich der Konflikt auf dem besetzten Grundstück in Guernica weiter zu. Die Nachbarn rufen die Regierung dazu auf, keinen Präzedenzfall zu schaffen: „Die Schulen, die Krankenhäuser waren schon vorher total überlastet, wie soll das alles funktionieren?“

Aber auch die Landbesetzer sind verzweifelt: „Unsere Lage wird immer aussichtsloser. Das Geld reicht nicht mehr, um die Miete zu bezahlen. Auf den Grundstücken unserer Familien ist kein Platz mehr für weitere Unterkünfte. Uns wurden die Gehälter gekürzt, viele wurden entlassen, und die Gelegenheitsarbeiten werden immer weniger.“

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