zum Hauptinhalt
Aus Scham. Die meisten Analphabeten behalten ihr Geheimnis für sich.

© K. Kleist-Heinrich

Analphabeten in Deutschland: Ein Leben mit Lügen

Im Restaurant bestellt er immer dasselbe, ein Brief löst bei ihm Panik aus. Der Berliner Andi ist „funktionaler Analphabet“. Und Experte für Ausreden.

Mit drei Jahren drückt sie Andi ein Buch in die Hand. Guckt ihn an, fordernd, will, dass er ihr vorliest. Sein Herz klopft. Er schwitzt. Vorlesen. Wie das denn? Andi blättert das Buch durch, Seite für Seite. Schaut sich die Bilder von dem Jungen im Urwald genau an. Und denkt sich für die Tochter seiner Freundin eine Geschichte aus. Drei Jahre ist das her. „Heute weiß ich, dass das Kind darin Mogli heißt.“

Andi ist 22 Jahre alt und in Berlin geboren. In der Stadt leben rund 320 000 Menschen wie er. Funktionale Analphabeten, die einzelne Wörter, vielleicht kurze Sätze, lesen und schreiben können. Aber mehr nicht. In ganz Deutschland sind es 7,5 Millionen Erwachsene, die höchstens das Rechtschreibniveau der vierten Klasse erreichen. Das ist jeder Siebte. Mehr als die Hälfte hat Deutsch als Erstsprache erlernt.

Die Probleme zu Hause waren wichtiger

Wie das geht? Einen Schulabschluss bekommen, ohne richtig lesen und schreiben zu können? Andi, dunkle kurze Haare, Kapuzenpulli, erzählt: Die Eltern streiten viel. Der Vater trinkt. Sie trennen sich. Seine Mutter bekommt Krebs. Andi, selbst noch ein Junge, bringt die sechsjährige Schwester morgens zur Schule, kocht für sie und den geistig behinderten Bruder. Badet die Mutter. „Das war wichtiger als die Schule.“ Die Krankenkasse bietet Hilfe an, aber Andi lehnt ab. Er will keine Fremden zu Hause haben. Fremde, die Fragen stellen. Lieber kümmert er sich selbst. Schwänzt den Unterricht. Verpasst, wie man Silben zu Wörtern verbindet.

Standen Prüfungen an, war Andi krank, oder hatte sich den Finger gebrochen. Musste die Klasse ein Gedicht einstudieren, schaute er den anderen auf die Lippen, sprach leise nach, was sie sagten. Prägte sich so die Zeilen ein. „Es gibt viele Möglichkeiten, durchzukommen“, sagt er und rückt seine Brille zurecht. Er wurde erfinderisch.

Manche gehen auf dem Weg verloren

Weil er in Deutsch trotzdem schlecht blieb, bekam Andi Förderunterricht, der ihm, wie er sagt, nichts brachte. Er wechselte zur Sonderschule, bekam einen so genannten Nachteilsausgleich. Damit musste er vor der Klasse nicht mehr laut lesen, seine vielen Rechtschreibfehler wurden in Arbeiten nicht mehr gewertet. In Berlin gibt es den Nachteilsausgleich seit 2005. Schüler wie Andi sollen dadurch zeigen können, was sie trotz ihrer Schwäche wissen und gelernt haben. Nur: Ohne intensive Förderung ändert sich nichts am Problem. Mit 16 schaffte Andi seinen Schulabschluss. Doch richtig lesen konnte er nicht.

Wie oft sie diese Lebensläufe schon gehört hat. Gegenüber von Andi sitzt seine Lehrerin, Ulrike Busse. Sie ist 40 Jahre alt, trägt ihr dunkelbraunes Haar bis zum Kinn, und arbeitet für den Verein „Lesen und Schreiben“. Klassen heißen hier Gruppen, Schüler Lernende.

Die deutsche Rechtschreibung sei kompliziert, sagt sie. Nach der vierten Klasse werde sie in Arbeiten gewertet, aber nicht mehr im Unterricht geübt. Es gebe sowieso zu wenige Lehrer, um jedes Kind mit seinen Schwächen im Blick zu behalten. Trotz Integrationsklassen. Trotz individuellen Lernens. „Der Zug fährt weiter“, sagt Ulrike Busse. „Und manche gehen auf dem Weg verloren.“

Die meisten Analphabeten behalten ihr Geheimnis für sich

Aus Scham. Die meisten Analphabeten behalten ihr Geheimnis für sich.
Aus Scham. Die meisten Analphabeten behalten ihr Geheimnis für sich.

© K. Kleist-Heinrich

Das Thema Analphabetismus bekommt wenig Aufmerksamkeit. Allein, wo der Verein zu finden ist: Neukölln, Herrnhuter Weg 16. Eine kleine, gepflasterte Seitenstraße der Karl-Marx-Straße. Man sieht ihn erst, wenn man direkt daran vorbei geht.

Dabei war der Schock groß, als die Universität Hamburg 2011 die „Level-One-Studie“ veröffentlichte und die Zahl der funktionalen Analphabeten im Land auf 7,5 Millionen bezifferte. Im Herbst 2012 starteten unter anderem Bund, Länder, die Bundesagentur für Arbeit und der Bundesverband Alphabetisierung eine nationale Strategie. Im September veröffentlichte der Berliner Senat sein Konzept.

Bis 2018 soll es mehr Kurse für Betroffene geben, 5,4 Millionen Euro stellt der Europäische Sozialfonds zur Verfügung. Mitarbeiter in Jobcentern, Bürgerämtern und Familienzentren sollen sich mit dem Thema auseinandersetzen. Es soll Teil des Lehramtsstudiums und so auch in den Schulen ernster genommen werden. Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres spricht von einem „unbekannten Massenphänomen“, das nicht nur ein Problem der Zuwandererbevölkerung sei.

Wie, du bist doch zur Schule gegangen!

Wenn es Förderbedarf gibt, dann nennt den Eltern Hilfsangebote, fordert Ulrike Busse. Ihnen müsse klar gemacht werden: Ihr Kind ist keine Ausnahme, viele haben das Problem. „Und die Gesellschaft muss akzeptieren, dass es diese Fälle gibt.“ Eine Fünf in Mathe zu haben, führe hierzulande nicht dazu, ausgegrenzt zu werden, Physik nicht zu können, gelte schon fast als normal. Aber Fehler beim Buchstabieren seien ein Grund, sich zu schämen.

Wie, heißt es dann, du bist doch zur Schule gegangen! Analphabetismus sei noch immer ein Tabu, sagt die Lehrerin. „Eine Gesellschaft wie unsere, mit einem so hohen Niveau, will einfach nicht zugeben, dass Millionen nicht lesen und schreiben können.“

Die meisten Analphabeten behalten ihr Geheimnis für sich. Bei Andi, der anonym bleiben will, wissen seine Freundin und drei Freunde Bescheid. Er möchte sich nicht outen, weil er Angst vor Kommentaren hat. Er will sich nicht rechtfertigen. „Ich dachte, wir wären Freunde“, könnte dann vorwurfsvoll einer sagen. Oder: „Vertraust du mir nicht?“ Andi wird ruhig. Verschränkt die Arme. Als er seinem besten Freund die Wahrheit sagte, brach der den Kontakt ab.

Er hat sich daran gewöhnt zu lügen

Neulich, auf einer Party, fragte jemand: „Hey, spielst du mit eine Runde Tabu?“ Andi tat so, als würde ihn gerade jemand anrufen. Das Mal davor hatte er Bauchschmerzen und musste sofort gehen. Das Nicht-Sagen macht ihn vielleicht manchmal seltsam. Trotzdem schweigt er lieber, erfindet Ausreden. Wo diese Straße ist? Weiß er nicht, er ist nicht von hier. Warum er nicht zurückgeschrieben hat? Tut ihm leid, keine Zeit. Auch wenn Andi ein schlechtes Gewissen hat, er ist mittlerweile daran gewöhnt zu lügen.

Wenn Andi essen geht, dann immer beim Griechen um die Ecke. Da nimmt er die 112, jedes Mal: Schweinemedaillons mit Käse überbacken, Ananas und Metaxa-Sauce. Nie etwas anderes. Welchen Wein? Empfehlen Sie einen! Oder eine Fanta, die gibt es überall. In Bars bestellt Andi ein Desperados oder Alsterwasser. Keinen Cocktail. Nachher ist da Kokosnuss drin. Dagegen ist er allergisch. Mittlerweile könnte Andi die Speise- oder Cocktailkarte sicherlich lesen. Tut er aber nicht. Er geht ja nicht allein, sondern mit Freunden aus. Denen könnte auffallen, wie lange, wie angestrengt er auf die Buchstaben starrt. Für Andi sind das keine Hieroglyphen mehr. Sie zu entziffern, kostet ihn aber Zeit.

Manchmal ist Berlin für ihn wie Moskau

Unterschriften setzt Andi nur, wenn seine Freundin dabei ist. Ein Brief, mögliche Forderungen auf Papier, lösen bei ihm Panik aus. Vielleicht müsste er jemanden anrufen, zum Amt gehen, etwas erklären, im schlimmsten Fall schriftlich. Jedes Schreiben würde er am liebsten weglegen, schnell vergessen. Eine Mahnung bekam er schon. Andere haben sich aus diesem Grund hoch verschuldet.

Analphabeten isolieren sich und vermeiden vieles. Sie bleiben in ihrem Umfeld, reisen nicht. Hier der Penny, da die Post, ihre Welt soll klein und sicher sein. Andi traut sich zu reisen. Er war schon oft an der Ostsee und in Spanien, wo die Speisekarten Bilder haben. Einmal ist er mit einer Freundin, die von seinem Problem weiß, nach Russland geflogen. Dort angekommen, sagte sie ihm, sie könne nichts lesen, nichts verstehen. „Herzlich Willkommen in meiner Welt“, antwortete Andi. Er grinst. „Da war sie mal genauso ahnungslos wie ich.“ Überall fremde Zeichen. Manchmal ist Berlin für ihn immer noch wie Moskau.

„Komisch, wird das nicht mit zwei ,m' geschrieben?“

Aus Scham. Die meisten Analphabeten behalten ihr Geheimnis für sich.
Aus Scham. Die meisten Analphabeten behalten ihr Geheimnis für sich.

© K. Kleist-Heinrich

Es ist Dienstagnachmittag. Wie jeden Tag ist Andi von acht bis halb vier im Herrnhuter Weg. Die eine Hälfte der Zeit hat er Praxisstunden, geht zum Bäcker, zur Post, soll seine Angst verlieren. Die andere Hälfte besteht aus Unterricht. Mathe, Sozialkunde, Deutsch. Andi steht vor der Tafel, hält ein Stück Kreide in der Hand. Er soll drei Wörter anschreiben. Langsam notiert er: „Fertig. Komisch. Hinderlich.“ Buchstabe für Buchstabe, etwas kritzelig, aber lesbar. Und fehlerfrei. Es geht heute um Wortendungen. „Fühlen sich alle sicher damit?“, fragt Ulrike Busse. Andi schüttelt den Kopf.

Vor ihm sitzt ein Mädchen und hebt die Hand. „Komisch, wird das nicht mit zwei ,m' geschrieben?“ Das Mädchen heißt Lisa, ist 23 Jahre alt, ihre langen blonden Haare sind zu einem Dutt zusammengebunden. Sie sitzt gerade auf dem Stuhl, drückt sich langsam und gewählt aus. Sie möchte ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Wie Andi. Außer ihrer Familie weiß doch niemand Bescheid.

Die Diagnose Rechtschreibschwäche hat Lisa früh bekommen. Drei Mal hat sie eine Klasse wiederholt, die fünfte, die siebte und die elfte. Zwei Mal sind ihre Eltern umgezogen. 2007 ließen sie sich scheiden. Immer wieder neue Schulen, neue Lehrpläne. Mitschüler mobbten sie. Ab der zweiten Klasse bekam Lisa Förderunterricht, später, wie Andi, einen Nachteilsausgleich.

Blinkt ihr Handy, wird sie nervös

Sie ist froh, jetzt hier zu sein. Wenn sie sagt, dass sie noch eine Minute braucht, lacht niemand. Wenn sie fragt, ob ihr jemand eine SMS vorlesen könnte, ist keiner irritiert. Mal eben darauf antworten, das geht nicht. Blinkt ihr Handy, wird sie nervös. Vielleicht, sagt Lisa, möchte sie mal Bibliothekarin werden. Bücher sind geduldig. Ihnen ist egal, wie lange sie bis zur letzten Seite braucht.

Die Stunde ist vorbei. Andi nimmt eine braune Holzkiste vom Tisch, auf der sein Name steht. Darin sortiert er Karteikarten mit Wörtern, die er schon richtig und die er noch immer falsch schreibt. In der nächsten Woche steht ein Test an. Anschließend werden sie Formularbögen durchnehmen, die manchmal bei Ärzten ausgefüllt werden müssen. „Ihr könnt die Muster mit nach Hause nehmen“, sagt Ulrike Busse. Ihr Ton ist klar. Wenn sie redet, ist es ruhig im Raum.

Mittlerweile schreibt er eine SMS

Andi hat noch bis Februar bei ihr Unterricht. Dann ist die Maßnahme, die das Jobcenter seit anderthalb Jahren bezahlt, vorbei. Er kann sich noch an seinen ersten Tag erinnern. Um pünktlich zu sein, ist er den Weg tags zuvor abgefahren. Hat sich Geschäfte gemerkt, auffällige Häuser, Plakate. Obwohl er eigentlich eine Stunde bis zum Verein braucht, hatte er am ersten Schultag vier eingeplant. Lisa kennt das: Bei einem neuen Weg weiß sie nie, ob sie richtig ist oder nicht. In der Bahn hat sie auf ihrem Handy deswegen einen Routenplan geöffnet. Während der Fahrt vergleicht sie die Zwischenstationen auf dem Display mit jeder Haltestelle, die vorbeizieht.

In seiner ersten Deutschstunde konnte Andi so gut wie kein Wort lesen und schreiben. Mittlerweile postet er bei Facebook nicht nur Bilder, sondern kommentiert auch mal. Obwohl er lieber telefoniert, schreibt er auch SMS. Auf seinem Nachttisch liegt sein erstes dickeres Buch. „Davids Versprechen“ von Jürgen Banscherus. Es hat mehr als 100 Seiten. „Nichts verraten, nicht darüber reden“, so beginnt die Inhaltsangabe.

„Das ist so absurd“, sagt Andi

Andi hofft, dass er bis Februar noch genug lernen kann, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. „Ich würde gern Krankenpfleger werden“, sagt er. „Und in einem Kinderhospiz arbeiten.“ Doch wahrscheinlich wird es dafür noch nicht reichen. So wird er sich wieder beim Jobcenter um Minijobs bewerben.

Ein Mitarbeiter schickte ihn nach der Schule in eine Werkstatt, Holzkreuze schnitzen, dann zu einem Integrationskurs. „Wo die Leute angefangen haben, das A zu lernen.“ Später sollte er Bewerbungstrainings machen, obwohl er angegeben hatte, dass er nicht lesen und schreiben kann. „Das ist so absurd“, sagt Andi. „Es gibt einen Pflegenotstand und ich kann in dem Bereich vielleicht nie arbeiten.“

Sein letzter Job war auf einem Bauernhof. Dort musste Andi Häschen füttern. Und einen Esel namens Hugo auf die Weide führen.

Zur Startseite