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Die Perlen an der Bluse der Designerin Christine Wolf stellen einen Code in Brailleschrift dar, der über Farbe und Waschinstruktionen Auskunft gibt.

© _Elena Kashirskaya

Adaptierte Produkte: Von Rollstuhlfahrerbedarf bis Braille-Chic für Blinde: Kleidung mit gewissen Extras

Für Menschen mit Behinderungen gibt es zum Anziehen vor allem Funktionelles. Dabei kann bedarfsgerechte Mode viel mehr sein. Ein kleiner Überblick anlässlich der Paralympics in Rio.

Dass es da eine blinde Frau gebe, die ihre ganze Wäsche immer im kalten Schongang wasche, weil sie ja nicht sehen könne, welche Farben die Sachen haben, die sie gerade in die Maschine fülle. So, wie sie auch nicht sehe und nur hoffen könne, dass das, was sie sich zum Anziehen auswähle, zusammenpasse.

Davon hörte Christine Wolf, eine Berliner Designerin, als sie angefangen hatte, sich mit Blick auf die Moskauer Fashion Week 2015 Gedanken über Mode für blinde Menschen zu machen. Auf Einladung von Bezgraniz Couture, einem Modeprojekt, das sich für adaptierte, also bedarfsgerecht umgearbeitete Mode für aus den Normen fallende Menschen einsetzt. Man kannte sich, weil Christine Wolf 2012 bei einem Bezgraniz Couture Award den zweiten Platz gewonnen hatte und sie in Erinnerung geblieben war als eine, die zwar mit reduziertem Design, dafür aber mit vielen Faltungen und Absteppungen arbeitet – Stoff als Tastobjekt sozusagen. Für die Fashion Week hatte Wolf noch eine andere Idee. Sie nähte mit Perlen die für Blinde unsichtbaren Informationen auf die Kleidung: Codes in Brailleschrift für Farbe, Waschinstruktionen und welche Teile zu welchen passen.

Kommerziell sei das nichts, sagt Christine Wolf ein Jahr später, viel zu aufwendig und viel zu teuer, weshalb sie sich derzeit um ihre eigentlichen Kollektionen kümmert. Die Suche nach Fördermöglichkeiten habe sie aber nicht aufgegeben.

Menschen mit Behinderungen nicht defizitär wahrnehmen, ist ihr Ziel

Bezgraniz Couture – Bezgraniz heißt übersetzt „ohne Grenzen“ – gibt es seit 2008, es geht in dem Projekt mit Adressen in Moskau und Berlin zunächst um Mode und perspektivisch darum, das Image behinderter Menschen zu verändern, sie aus der Ecke „defizitär“ herauszuholen. Ein Ziel, die sich bisher im Alltag selten genug einlösen lässt. Nicht, was Gleichberechtigung und Teilhabe angeht, und auch nicht, was modische Wünsche und Vorstellungen angeht.

Die Internationale Fachmesse Rehacare in Düsseldorf, die nach Ende der Mittwoch beginnenden Paralympics in Rio de Janeiro eröffnet, zählt unter rund 750 Ausstellern gerade mal 16 aus der Bekleidungssparte. Mode sei eine absolute „Nische“, heißt es. Und was dort angeboten werde, sei überwiegend Rollstuhlfahrerbedarf: Hosen, die am Hintern keine Taschen haben, aber hohe Bündchen, die eventuell gegen Druckstellen gepolstert sind und an den Beinen so geschnitten, dass man problemlos rein- und rauskommt, außerdem für draußen Ponchos und Beinsäcke. Praktisch, robust, funktionell. Aber darauf möchte auch nicht jeder beschränkt sein.

Die Bluse von Eva Brenner kommt ohne Knöpfe aus, hilfreich für alle, deren Finger nicht mehr so beweglich sind.
Die Bluse von Eva Brenner kommt ohne Knöpfe aus, hilfreich für alle, deren Finger nicht mehr so beweglich sind.

© Connemara / Promo

„Mode ist eine Art, Individualität auszudrücken“, sagt Eva Brenner, Designerin mit Muskelschwund. Das gelte für kranke Menschen kein bisschen weniger als für gesunde. In der Mode gehe es um schön oder nicht schön. Diese Auswahl sollten möglichst alle Menschen haben. Und wenn ihre schwachen Finger die schicke Bluse mit den kleinen Knöpfen nicht mehr bedienen können, dann nimmt sie ein Modell zum Wickeln. Und wenn es das nicht gibt, dann entwirft sie es eben selbst. Und weil die umtriebige Nürnbergerin in der Kunst- und Modeszene viele Leute kennt, kam sie irgendwann in Kontakt mit dem Strickmodenlabel Connemara, das ihre Bluse ins Sortiment aufgenommen hat. Einfach so. Sie hängt mit den ganzen anderen Strickjacken, Pullovern und Westen zusammen. Bisher sei die Bluse zwar nicht so gut gelaufen, sagt Jens König von Connemara, was aber zum Teil an dem Preis von rund 130 Euro liege, der dem stoffaufwendigen Schnitt geschuldet sei. Für den Winter planen Connemara und Eva Brenner noch eine weitere Kooperation. Schließlich geht es ja auch um die gute Idee, per Mode ein wenig an den Grenzen der Gesellschaft zu rütteln.

Adaptierte Mode kommt oft von Betroffenen selbst - als Antwot auf einen Mangel

Wie bei Brenner ist es oft die eigene Nähe zum Thema, die Menschen für adaptierte Mode interessiert. Man braucht sie selbst oder kennt jemanden, der sie braucht. Manfred Sauer vom Branchenstar Rollimoden sitzt im Rollstuhl, Murat Kurt von der Berliner Firma Rollitex ebenfalls, Brigitte Schürmann von Schürmann Rehamode war vor dem Einstieg in die Kleiderbranche Kinderkrankenschwester und bekam so mit, woran es fehlt. Und bei Kerstin Thompson war es der Sohn, der vor elf Jahren mehrfach schwerstbehindert zur Welt kam. Was anfangs zumindest unter Bekleidungsgesichtspunkten kein Problem war, änderte sich, als der Junge größer wurde und nichts mehr passte oder saß. Da holte Thompson, eine gelernte Schneiderin, ihre Nähmaschine wieder hervor und nähte selbst, was die Läden nicht hergaben. Das wiederum sahen in den Tageseinrichtungen Eltern anderer Kinder mit demselben Handicap und fragten nach. Und so konnte Thompson in der Gartenlaube des Oldenburger Mietshauses, in dem sie wohnt, eine kleine Näherei aufbauen. Ehemalige Kolleginnen aus der Schneiderzeit kämen zum Kaffeetrinken zu ihr und dann würde genäht, sagt sie. So entstand langsam, aber stetig ein praxiserprobtes Angebot für Menschen mit speziellen Bedürfnissen. Verkauft wird über die Internetseite reha-fashion.de.

Mehr Vernetzung! Für die Paralympics hat sie adaptierbar.com ins Netz gestellt

Wie miniaturhaft zersplittert die Branche ist, hat auch Kathleen Wachowski bemerkt. „Überall kleine Inseln“, sagt sie. Und will die über die Onlineplattform smart-fit-in.de vernetzen. Alle Akteure im Bereich adaptierte Mode – Kleinunternehmen, Forscher, Designer, Behinderte – sollen dort zusammenkommen und Synergien entstehen. In der Vernetzung sieht Wachowski enormes Lobby-Potenzial. 10,2 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung wurden 2013 in Deutschland gezählt, und zu jedem gehören in der Regel mehrere Angehörige, Bekannte, Betreuer, die sich alle mit dessen Wünschen auseinandersetzen. Das sollte doch einen interessanten Markt ergeben. Die rührige Weimarerin will jetzt die Paralympischen Spiele nutzen, um die Gruppen potenziell Interessierter anzusprechen. Dafür hat sie unter adaptierbar.com ein Online-Befragungsspiel gestartet, in dem jeder Teilnehmer eintragen kann, was er sich für Veränderungen und Verbesserungen wünscht. Was in der Logik der Inklusion am Ende auch den nichtbehinderten Menschen zugutekommt. So können die Rollimoden-Hosen aus beheizbarem Novosanmaterial sicher auch jenseits von Rollstühlen für wohligen Sitzkomfort sorgen.

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