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Zu viele Überstunden sind ein Gesundheitsrisiko.

© imago images / Westend61

55 Wochenstunden oder mehr: UN-Studie führt 745.000 Todesfälle auf Überarbeitung zurück

Herzerkrankungen und Schlaganfälle: Durch Überarbeitung gingen einer Studie zufolge 2016 weltweit rund 23 Millionen gesunde Lebensjahre verloren.

Wer dauerhaft 55 Stunden oder mehr pro Woche arbeitet, hat ein deutlich höheres Risiko, tödlich zu erkranken. Laut einer aktuellen Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) starben deswegen allein 2016 weltweit rund 745 000 Menschen an einem Schlaganfall oder einer Herzerkrankung.

Laut der Studie nahm die Zahl der Todesfälle durch Herzerkrankungen im Zusammenhang mit zu langen Arbeitszeiten zwischen 2000 und 2016 um 42 Prozent zu, die Zahl der tödlichen Schlaganfälle stieg um 19 Prozent. Anders ausgedrückt: Durch Überarbeitung gingen 2016 rund 23 Millionen gesunde Lebensjahre verloren – mehr als durch Verletzungen oder Fehlbelastungen, die bis dahin als die größten Verursacher von Gesundheitsschäden am Arbeitsplatz gesehen wurden. Überarbeitung sei somit „der führende Risikofaktor für Berufskrankheiten“, erklärte die WHO.

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Die in der Fachzeitschrift „Environment International“ veröffentlichte Studie untersuchte erstmals weltweit den Zusammenhang zwischen sehr langen Arbeitszeiten und dem Verlust von gesunden Lebensjahren. Im Auftrag von WHO und ILO wurden Umfragen zu Arbeitszeiten aus 154 Ländern ausgewertet. Die Daten wurden mit Studien über Schlaganfälle und Herzkrankheiten mit insgesamt 1,6 Millionen Teilnehmern abgeglichen.

Japanischen existiert ein Wort für Tod durch Überarbeitung

Laut den Forscherinnen und Forschern arbeiten fast neun Prozent der Weltbevölkerung 55 Stunden oder mehr pro Woche. Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen steige ab dann stark an. Zum einen verursache dies die direkte körperliche und psychische Belastung, erklärte Mitautor Jian Li von der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Zum anderen gebe es durch den Stress bedingte, indirekte Faktoren wie etwa Alkohol, Zigaretten, zu wenig Bewegung und Schlaf.

Ostasien, Südostasien und der indische Subkontinent sind demnach besonders stark von arbeitsbedingten Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen, ebenso einige Länder in Afrika und Südamerika. Dort gebe es viele Menschen ohne geregelte Arbeitsverträge und -zeiten.

Im Japanischen existiert sogar ein eigenes Wort für Tod durch Überarbeitung: „Karoshi“. „Karoshi wurde in vergangenen Jahren als einzigartiges ostasiatisches Phänomen gesehen, doch durch unsere systematischen Untersuchungen und globalen Schätzungen wissen wir, dass es sich um ein globales Problem handelt“, sagte Li. Die geringste Gesundheitsbelastung sehen die Studienautoren in Nordamerika und Europa, wo der Arbeitnehmerschutz viel stärker ausgeprägt sei. „Diese Maßnahmen scheinen also wirklich zu funktionieren“, sagte WHO-Experte und Hauptautor Frank Pega.

In Deutschland fallen Milliarden Überstunden an

Doch wie sieht es wirklich in Deutschland aus? Obwohl im vergangenen Jahr Millionen Menschen in Kurzarbeit geschickt wurden, war die Zahl der Überstunden selbst immer noch sehr hoch. Insgesamt 1,68 Milliarden Überstunden hat das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung registriert – 892 Millionen davon unbezahlt. In manchen Branchen war im vergangenen Jahr mehr zu tun denn je. Außerdem: Laut dem DGB-Index „Gute Arbeit“ – einer repräsentativen Befragung von abhängig Beschäftigten in Deutschland – sind viele Menschen auch hierzulande hohen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt. Das zeigt sich laut dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in einer steigenden Arbeitsintensität und verbreiteten Erschöpfungszuständen. Arbeitszeiten von über 48 Stunden pro Woche würden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergehen, heißt es. Jobbedingter Stress sei einer der größten Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

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Mehr als die Hälfte der Befragten leidet unter einer steigenden Arbeitsverdichtung. Sie haben laut dem Report den Eindruck, in der gleichen Zeit immer mehr leisten zu müssen. 48 Prozent fühlen sich bei der Arbeit (sehr) häufig gehetzt; 36 Prozent sind im Anschluss (sehr) häufig zu erschöpft, um sich noch um private Dinge zu kümmern. Auch dies ist aus Sicht des DGB ein deutlicher Indikator für eine Überlastung. 35 Prozent können nach der Arbeit oft nicht abschalten. Der arbeitsbedingte Stress wird in die Zeiten mitgenommen, die eigentlich der Erholung dienen sollen.

Homeoffice verstärkt oft die Mehrarbeit

Die Corona-Krise könnte den Trend der Überarbeitung noch verstärken. „Homeoffice ist in vielen Branchen zur Norm geworden, wobei die Grenzen zwischen Zuhause und Arbeit oft verschwimmen“, erklärte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Gleichzeitig seien viele Unternehmen gezwungen, zu sparen und den Betrieb herunterzufahren – „und die Menschen, die sie weiter beschäftigen, müssen länger arbeiten“. Kein Job sei es aber wert, dass „man für ihn einen Schlaganfall oder eine Herzerkrankung riskiert“, warnte Tedros. Regierungen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssten sich deshalb zum Schutz der Beschäftigten gemeinsam auf Arbeitszeitgrenzen einigen.

„Einmal mehr wird deutlich, wie wichtig klare Regeln sind zur Arbeitszeiterfassung, für mobiles Arbeiten und für den Gesundheitsschutz“, sagte auch DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel dem Tagesspiegel. „Denn ohne solche Regeln drohen Beschäftigten unbezahlte Überstunden und Dauerstress.“ Entscheidend sei, dass die Zeit auch bei der Arbeit zu Hause vollständig erfasst und vergütet und das Recht auf Nicht-Erreichbarkeit eingehalten werde.

2019 hat der Europäische Gerichtshof entschieden: Alle Mitgliedsstaaten der EU müssen die Arbeitgeber verpflichten, Systeme zur Arbeitszeiterfassung einzurichten. In Deutschland gibt es bis heute kein Gesetz dazu.

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