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Obdachlose in Berlin: Die fremde Frau in meinem Keller

Im Verschlag unserer Autorin hat sich jemand eingerichtet. Vermutlich eine Obdachlose. Augen zudrücken oder die Polizei rufen? Eine Gewissensfrage. Diskutieren Sie mit.

Eine Matratze, ein Nachttisch, vier Taschen, drei Bierflaschen, eine Packung Saft, Kerzen, Turnschuhe, ein Weihnachtsmann aus Schokolade, ein hartgewordenes Baguette. Eine Tageszeitung liegt auch da, Ausgabe vom 22. Dezember. So lange ist die Fremde also mindestens hier.

Bemerkt haben wir es am 1. Januar. Mein Freund wollte das Babybettgitter verstauen, er kam zurück und sagte: „Das musst du dir anschauen!“ Seitdem rätseln wir, wer da in unserem Keller haust und was wir dafür oder dagegen tun könnten oder sollten oder müssen. Die Unbekannte hat einen Zettel hingelegt: „Bitte stehen lassen. Hole die Sachen ab. Bitte. Ist alles, was ich habe. Herzlichen Dank.“

Ich kann nicht mal mit Sicherheit sagen, dass es sich um eine Frau handelt, das vermute ich wegen der Turnschuhe, Größe 37 etwa. Es könnte sich natürlich auch um ein Kind handeln, und in diesem Fall müssten wir schleunigst die Polizei verständigen, oder nicht? Neben der Matratze steht auch eine kleine Spielzeugfigur, ein Mann mit Bart. Die sieht für mich aber eher aus wie eine Heiligenstatue. Als hätte sie da einer aufgestellt, der Schutz braucht.

Man möchte der Person einerseits helfen. Oder wenigstens: deren Leben nicht noch zusätzlich erschweren. Andererseits fühlt man Verantwortung der eigenen Familie und den anderen Bewohnern im Haus gegenüber. Zum Beispiel waren in der Matratze Brandlöcher, Zigarettenstummel daneben. Was, wenn sich dort unten ein Feuer entzündet und dabei ein Nachbar ums Leben kommt? Ich habe dann selbst einen Zettel hinterlassen und Regeln aufgestellt: bitte draußen rauchen und auch pinkeln, im Gang roch es streng.

In die Taschen habe ich bis heute nicht reingeschaut, das käme mir sonst vor, als würde ich Privatsphäre verletzen. Aber eine ist offen, da gucken lauter Kabel und Verteilerstecker raus. Ein paar Ordner mit Papieren drin sieht man auch. Ich stelle mir vor, dass diese Person noch nicht ewig obdachlos ist. Vielleicht wurde sie kurzfristig aus ihrer Wohnung rausgeworfen, vielleicht musste sie flüchten und hat nur das Nötigste mitgenommen. Ich glaube, dieses Zeug gehört einem sehr anständigen Menschen. Deshalb habe ich auch keine Angst vor ihm. 

Ich habe Freunden davon erzählt. Zu meiner Überraschung war manchen schon Ähnliches passiert. Ich bekam den Rat, ich müsse die Person schleunigst rauswerfen. Andernfalls könne ich mir auch gleich ein ganzes Haus anmieten und alle Obdachlosen der Stadt einladen. Diese Einstellung ärgert mich. Zumal ich den Kellerraum ja kaum benutze. Seit der Entdeckung gehen wir alle ein oder zwei Wochen runter und sehen nach, ob sich etwas verändert hat. Die Heiligenfigur liegt jetzt am Boden, der Schokoladen-Weihnachtsmann ist weg, das Alupapier liegt in der Ecke. Kann aber auch sein, dass sich eine Ratte die Schokolade geholt hat und dabei die Spielzeugfigur umwarf. Voriges Wochenende haben mein Freund und ich wieder diskutiert. Darüber, wie lange wir das alles so stehen lassen sollen. Ob wir am Ende nicht doch die Polizei verständigen müssten, der Person könnte schließlich etwas zugestoßen sein. Wir sind wieder zu keinem Ergebnis gekommen. Wie verhält man sich da richtig?

Diskutieren Sie mit in den Kommentaren: Wie würden Sie sich in einer solchen Situation verhalten? Oder ist Ihnen gar ähnliches passiert?

Annett Stoffer

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