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Das Gedächtnis eines Königsreichs. Eine Besucherin vor Offizieren des Ersten Weltkriegs.

© Camilla Greenwell/National Portrait Gallery

National Portrait Gallery: Britisches Familienalbum: Von den Tudors bis zu Paul McCartney

Die Londoner National Portrait Gallery zeigt die wichtigsten Briten. Balsam in Zeiten der Identitätskrise.

An Maggie Thatcher führt kein Weg vorbei. Wer ins 16. Jahrhundert rollt – und das tut jeder, der die National Portrait Gallery besucht, aus der Gegenwart geradewegs zwei Stockwerke hoch –, der schaut von der Rolltreppe aus auf ein großes Gemälde der Eisernen Lady. Entschlossen, wie man sie kennt, auf dem Parteitag in Brighton 1982. Zum Trost folgt gleich darauf Paul McCartney. Was die beiden überhaupt verbindet? Die wichtige Rolle, die sie für Großbritannien gespielt haben. Das ist das Kriterium, um in den Olymp aufgenommen zu werden.

Beim ersten Mal wäre man fast vorbeigelaufen. Das Museum liegt zwar im Herzen der Londoner Innenstadt, zwischen Leicester und Trafalgar Square, in Westminster City. Aber der Museumseingang ist so schmal wie der Bürgersteig davor, kommt ohne die großen Treppen und Säulen aus, die üblicherweise auf ein Haus von nationaler Bedeutung hinweisen. Dabei ist die National Portrait Gallery eine einzigartige Institution: das Museum mit der größten Porträtsammlung der Welt, darunter allein 250 000 Fotografien. Und das erste, das die Geschichte des eigenen Landes anhand von Bildern einzelner Menschen erzählt. Eine Erfindung des viktorianischen Zeitalters, 1856 entstanden dank der Privatinitiative einiger Historiker.

Es ist das Museum der Stunde. Noch nie war so unklar, was für eine Nation Großbritannien ist. Vielleicht kann man in keiner anderen Institution so viel über das Selbstverständnis der Briten erfahren. „We are all about identity“, sagt der Museumsdirektor gern.

„Keiner redet über den Sklavenhandel“

Auch für Balika Reddy ist die Gallery ein Ort der Zuflucht und Fantasie, ein Ort der Hoffnung: dass Kunst Menschen zusammenbringt. Die 42-Jährige schaut regelmäßig vorbei, auch um dem Stress ihres Alltags zu entkommen. Reddy hat viel mit Menschen zu tun, aber mit lebenden, ängstlichen, hochgradig angespannten. Sie ist Zahnärztin. Wenn sie die Bilder von dem kleinen breitbeinigen Edward I. betrachtet oder der Suffragette Emmeline Pankhurst, dann denkt sie sich Geschichten zu ihnen aus: „Was war das für ein Mensch? Was hat er gedacht, erlebt?“ Sie habe, erzählt Balika Reddy mit sanfter Stimme, das Gefühl, ein Gespräch mit den Dargestellten zu führen.

Als gastfreundlich, ja kosmopolitisch empfindet die gebürtige Inderin das Museum, dessen Mitglied sie mittlerweile ist. Oft kommt sie auch mit den Lebenden ins Gespräch, anderen Besuchern. Für sie scheint die Gallery weniger britisch als menschlich zu sein.

Für Alice Procter ist das Museum ein Ort der Unterschlagung und Verdrängung. Mit sieben kam die gebürtige Australierin das erste Mal her, entbrannte für Queen Victoria, wurde Fan der Prärafaeliten. Heute leitet sie „Uncomfortable Art Tours“, die bei Elisabeth I. beginnen und bei Queen Victoria aufhören. Alice Procter, ganz in Schwarz gekleidet, gibt sich erst gar keine Mühe, ihre Stimme zu dämpfen, wie man es in Gemäldegalerien meist tut. Die 23-Jährige möchte gehört werden. Die lebhafte Kunsthistorikerin, die auch durch andere Londoner Museen führt, will vor allem auf den Imperialismus und das koloniale Erbe hinweisen, ihrer Meinung nach in den Institutionen ein schwarzes Loch. „Man redet über die Abschaffung der Sklaverei, nicht aber den Sklavenhandel.“ Procter versorgt die Besucher, darunter besonders viele junge Frauen, mit Informationen, die man mit bloßem Auge nicht sehen kann. Jetzt bleibt sie vor dem kleinen Porträt von Omai stehen, des ersten Polynesiers, der mit Captain Cook nach England kam und herumgereicht wurde. Auf dem Bild trägt er ein traditionelles Gewand, nicht wie sonst bei seinem Besuch, so Procter, europäische Kleidung. „Das heißt, er spielt sich selbst.“

Die Porträtierten müssen keine Biobriten sei

Der Grat zwischen Heldenverehrung und Inspiration ist schmal in einer solchen Galerie. Als „Familienalbum der Nation“ beschreibt sich das Museum selbst. Man kann durch die Geschichte von den Tudors bis in die Gegenwart spazieren, so, wie man in einem Album blättert. Mal bleibt man hier, mal dort hängen, stößt auf geliebte oder gehasste Verwandte – oder macht ganz neue Entdeckungen. Etwa bei dem sympathischen Gemälde von Dorothy Hodgkin, der Chemie-Nobelpreisträgerin am Schreibtisch, mit strubbeligen Haaren und vier Armen.

Viele Stammgäste halten es wie Balika Reddy, gucken selbst kurz vorbei, wie bei guten Freunden, nach Feierabend, in der Mittagspause, beim Einkaufsbummel – etliche Besucher tragen Tüten in der Hand. Wie bei den meisten großen britischen Museen ist der Eintritt frei, nur für Sonderausstellungen müssen die Besucher zahlen. Ein Londoner Richter zum Beispiel geht gern Händel besuchen, dessen Musik er so liebt, oder Nelson Mandela, den er bewundert. – Händel, Mandela? Die Porträtierten müssen keine Biobriten sein, nur einen Beitrag zum hiesigen Leben geleistet haben. Bei den Künstlern ist die Nationalität eh egal.

Wenn die Frankfurter Autorin Elsemarie Maletzke in London ist, schaut sie immer bei den Brontë Sisters vorbei, dem einzigen Porträt, das es von den dreien gibt, und das jeder Fan kennt. Bruder Branwell hat es gemalt, „vermutlich das schlechteste Bild im ganzen Haus“, sagt Maletzke. „Aber man möchte immer ein bisschen flennen, wenn man davor steht.“ Sie haben es ihr angetan, „diese drei ernsten Schulmädchen, die dem Betrachter das Gesicht zuwenden, mit den Augen jedoch ganz woanders sind, und Branwell, der eigentlich der Mittelpunkt des Bildes sein sollte, der sich aber wieder ausgetilgt hat und nun nur noch als helle Säule besteht.“ Eine große Verletzlichkeit sei da zu spüren.

Die Besucher vermissen Ed Sheeran

Die Aktivistin Malala vor ihrem Bild in der National Portrait Gallery.
Die Aktivistin Malala vor ihrem Bild in der National Portrait Gallery.

© Jorge Herrera/ National Portrait Gallery

Großbritannien, eine Insel? Auch der deutsche Besucher hat das Gefühl, in einem Familienalbum zu blättern. Allein die vielen Schriftsteller, von Jane Austen über Roald Dahl bis Virginia Woolf, deren ikonisches Profil aus jungen Jahren hier hängt. Künstler aller Art sind im Museum besonders stark vertreten, das allererste Werk der Sammlung zeigt Shakespeare.

Klar. So wie ein Porträt keinen Menschen, sondern das Bild eines Menschen zeigt, zeigt die National Portrait Gallery auch nicht Großbritannien, sondern das Bild des Landes. Und das ist immer auch das Bild einer Zeit. Wen die Besucher am meisten vermissen, wenn die Ausstellung mal wieder umgehängt wird, was regelmäßig passiert? Die Royals, sagt die Kuratorin. Und Ed Sheeran.

Spezifisch britisch ist vielleicht der Zugang: Gilt Deutschland als Land der Ideen und Ideologien, beschäftigt man sich in England traditionell gern mit Individuen und deren Leben. Lange bevor Biografien in Deutschland als Literatur ernst genommen wurden, wurden sie auf der Insel als solche schon preisgekrönt. Auch unter den Mitgliedern des Museumskuratoriums, das darüber entscheidet, wer neu in die Galerie aufgenommen wird, sitzt immer ein Biograf. Abgesehen davon, dass die Kontinuität der Geschichte und ihrer Überlieferung natürlich eine ganz andere ist als im zersplitterten, zerstörten Germanien.

Chronologisch bewegt sich die Historie im Museum von oben nach unten. In den ersten Jahrhunderten kriegt man – zwischen Scharen von Touristen – die Reichen und die Mächtigen zu sehen, die es sich überhaupt erlauben konnten, sich porträtieren zu lassen. Das Volk kommt nicht vor.

In den Swinging Sixties kam Roy Strong

Im 18. Jahrhundert hat man irgendwann genug von bärtigen weißen Männern (keine Hipster!) und flüchtet sich zur Stärkung ins Museumscafé. Dort gibt es mehr Kaffeespezialitäten als Teesorten, und im Lunchangebot ist neben Stew und Brot ein kleines Glas Wein enthalten. Wein, nicht Bier, ist heute des Briten liebstes alkoholisches Getränk. So viel zu nationalen Klischees.

Gemütlich ist das Café im Untergrund nicht. Schöner und edler ist das Dachrestaurant, wo man zum Panoramablick über London moderne britische Küche serviert: gegrillte Jakobsmuscheln mit Artischockenpüree. Auch elegant sitzt man im oberirdischen Pendant der National Gallery nebenan – bei dekonstruiertem Langustenpie.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass das Haus als ziemlich verstaubt galt. Bis in den Swinging Sixties Roy Strong kam. Der bei Amtsantritt 31-jährige Direktor brachte mehr als frischen Wind, nämlich einen ganzen Orkan in die alten Gemäuer, „gab der Geschichte einen Facelift“, wie ein Journalist schrieb. Strong, Kunsthistoriker und Dandy mit Faible für rauschende Kostümfeste, interessierte sich so brennend für die Vergangenheit wie die Gegenwart. Also schaffte er 1969 die alte Regel ab, dass ein Mensch (mit Ausnahme der königlichen Familie) mindestens zehn Jahre tot sein musste, um in die Galerie aufgenommen zu werden.

Mit der Ausstellung des Fotografen Cecil Beaton, der ersten großen zeitgenössischen Schau, bescherte Strong dem Museum auch seinen ersten Blockbuster, ein Fanal des Wandels. Es war das Ende des Leichenschauhauses, wie manche die Porträtgalerie nannten. Strong lüftete die Präsentation durch, entstaubte die Werke buchstäblich und richtete eine eigene Abteilung für Film und Fotografie ein. Bald wurden auch Aufträge rausgegeben, an Künstler wie David Hockney, neben Lucian Freud einer der großen Meister der realistischen Porträtmalerei. Ein Genre, das in Deutschland gering geschätzt wird, wo man auch Auftragskunst als Relikt der höfischen Malerei betrachtet.

Das Museum antwortet auch auf den Brexit

Nicht ganz so schillernd wie Glamourboy Roy Strong, aber nicht minder konsequent haben seine Nachfolger den Weg der Modernisierung fortgesetzt. Anfang des Jahres erst verkündete der amtierende Direktor Nicholas Cullinan das 35,5-Millionen-Projekt „Inspiring People“, das größte seit Eröffnung des Standortes 1896, das diesen nicht nur räumlich, sondern vor allem inhaltlich öffnen soll.

Schon jetzt ist das Bemühen um mehr Diversität deutlich zu spüren. Jünger, weiblicher, bunter ist die Galerie geworden, entsprechende Neuerwerbungen oder Leihgaben werden hervorgehoben, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Mary Seacole zum Beispiel, die als Krankenschwester im Krimkrieg diente, lange vergessen und bei einer Umfrage 2004 zur bedeutendsten schwarzen Britin gewählt.

Auf den Brexit antwortet das Museum auf seine Weise. In der aktuellen Sonderausstellung des für seine schrillen, ironischen Britannien-Bilder bekannten Fotografen Martin Parr. „Only Human“ zeigt viel Volk; die Besucher wirken dankbar, endlich mal wieder über sich selber lächeln zu können. Noch programmatischer erscheint die momentane Auswahl der Zeitgenossen, die all das sind, was man sich wünscht: kultiviert und engagiert, multikulturell und innovativ. Schauspielerin Judi Dench, der von Briten wie Iren gleichermaßen geliebte Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney, der Erfinder James Dyson, die Gefängnisreformerin Dame Anne Owers, der sozialkritische Regisseur Mike Leigh und im Zentrum: Malala Yousafzai. Die Aktivistin, der die Taliban ins Gesicht schossen, weil sie sich für die Bildung von Schulmädchen einsetzte – und die in Birmingham aufgenommen wurde. Nach der Enthüllung vor einem halben Jahr ist das eindringliche Porträt, ein Auftragswerk von Shirin Neshat, ein Instant-Hit. Viele junge Musliminnen lassen sich vor der 21-jährigen Friedensnobelpreisträgerin fotografieren, die besser als jeder andere im Museum verkörpert, was dieses im 21. Jahrhundert sein will. Inspirierend und identitätsstiftend. Das Ensemble dieser sechs Menschen wirkt wie eine Utopie dessen, was Großbritannien, jenseits der Imperialisten und Kolonialisten, einmal war.

Reisetipps für London

Hinkommen

Flüge nach London mit Ryanair, Easyjet oder Eurowings ab 26 Euro. Oder mit der Bahn über Köln und Brüssel in gut neun Stunden.

Unterkommen

Fünf Minuten zu Fuß von der National Portrait Gallery liegt das Z Hotel Piccadilly, 2 Orange Street, Doppelzimmer ab 70 Euro, thezhotels.com.

Ebenfalls in der Nähe und mit illustrer Geschichte: The Royal Horseguards Hotel, 2 Whitehall Court, Doppelzimmer ab 342 Euro, royal-horseguards-hotel-london.hotel-ds.com.

Rumkommen

National Portrait Gallery, St. Martin’s Place. „Only Human“ läuft bis zum 27. Mai. Gallery to go: Viele der Porträts können online als Drucke bestellt werden: npg.org.uk.

Infos zu Alice Procters „Uncomfortable Tours“: theexhibitionist.org.

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