zum Hauptinhalt
16 ruhige Jahre lebte Nabokov im Montreux Palace – am liebsten fing er Schmetterlinge.

© Shutterstock / Anna Nahabed

Montreux: Nabokovs Schweizer Jahre

Seinen Lebensabend verbrachte der Schriftsteller in einem Hotel am Genfer See. Unser Autor inspiziert Nabokovs Schubladen und fühlt sich bald wie ein Stalker.

Da, ein Apollofalter! Nein, doch nur Laubwerk, zwischen zart gesprenkelten Frühlingsblüten. Kein Schmetterling hier oben im Örtchen Haut-de-Caux, auf halber Höhe des 2042 Meter hohen Rochers-de-Naye, dem Hausberg von Montreux. Und damit auch irgendwie noch keine Spur von – Vladimir Nabokov.

Der Schmetterlingsjäger und Schriftsteller hat die letzten 16 Jahre seines Lebens weiter unten in einem Hotel im schweizerischen Montreux verbracht und ist zum Falterjagen immer hier hoch gekraxelt.

Auf Falterjagd in Glion

Der Gipfel des Rochers ist heute schneebedeckt. Auf dem Weg dorthin eine ratternde Zahnradbahn. Skiläufer, Sonne, wolkenloser Himmel, fantastische Fernsicht über den Genfer See auf die Alpenmassive der französischsprachigen Schweiz, deren weiße Spitzen sich in den Gewässern spiegeln. Eine Sicht, die Vladimir Nabokov jeden Tag genossen haben muss, wenn er sich mit dem Netz in Haut-de-Caux oder weiter unten in Glion auf Falterjagd gemacht hat.

Nun ist es genauso verwegen, vor Mai, Juni irgendwo in Mitteleuropa viele Schmetterlinge zu erwarten, wie noch einen Zeitzeugen im Hotel Montreux Palace zu finden, der sich, 41 Jahre nach dessen Tod, an einen berühmten Hotelgast erinnert. An einen der einflussreichsten und interessantesten Erzähler des 20. Jahrhunderts und das nicht nur wegen seines mehrfach verfilmten Skandal-Romans „Lolita“, sondern auch wegen seiner von Emigration geprägten Lebensgeschichte. Geflohen vor der Oktoberrevolution nach Berlin, dann vor den Nationalsozialisten, seine Frau war Tochter einer jüdischen Familie.

Im Jahr 1959 waren Véra und Vladimir Nabokov zum ersten Mal im Montreux Palace. Nabokovs Schwester wohnte in Genf. Nachdem sie 20 Jahre in den USA gelebt hatten, suchte das Paar ein neues Zuhause in Europa, in der Nähe von Mailand. Dort lebte Sohn Dmitri, ein Opernsänger. 1961 ließen sich die Nabokovs gänzlich in Montreux nieder. Ihre neue Heimat: eine Reihe von Räumen in der sechsten Etage des Cygne-Flügels, des Schwanenflügels. Sie nahmen an, es wäre nur vorübergehend. Es wurden 16 Jahre, bis zu Nabokovs Tod im Juli 1977.

Heimat russischer Aristokraten

Über vier Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Wie damals dominieren die gelben Jugendstil-Fassaden des Montreux Palace das Stadtbild, sichtbar schon bei der Ankunft in Montreux mit dem Interregio aus Lausanne. Zu Fuß 500 Meter die Rue de la Gare bergab, bis zu dem Riesengebäude mit dem geschwungenen Vordach. 236 Zimmer und Suiten, 15 Konferenzräume, 2000 Quadratmeter Wellness-Bereich. Edellimousinen vor der Tür, viele Geschäftsleute. Schwer, sich hier einen Dichter vorzustellen, der auch seine Ruhe haben will.

Bereits vor Nabokov war das 1906 im Jugendstil erbaute Montreux Palace Heimat russischer Aristokraten, die von St. Petersburg in die Schweiz reisten. Sie wollten die langen Wintermonate im milderen Klima verbringen. Gogol, Tolstoi, Dostojewski, auch sie kamen an die Waadtländer Riviera.

Freddie Mercurys Queen nahm in den „Mountain Studios“ im Kasino von Montreux Platten auf, berühmt auch deswegen, weil das Studio während eines Auftritts von Frank Zappa 1971 in Brand gesetzt wurde. Die aktuell rund 700 000 Übernachtungen im Jahr verdankt die Stadt also nicht nur dem russischen Schriftsteller, der hier eher still seiner Leidenschaft für Schreiben und Schmetterlinge nachgegangen ist.

Keine Nabokov-Geschichte ohne Falter-Beschreibung, zum Greifen nah, wie in seinem letzten Roman „Sieh doch die Harlekine!“: „Ein flacher, symmetrisch ausgespannter Schmetterling (...) Die Kreatur war in einem lächelnden Rot gemalt, mit gelben Leerstellen zwischen schwarzen Klecksen; eine Reihe blauer Halbmonde lief an der Innenseite der gezahnten Flügelränder entlang.“

Das Interieur war wie geschaffen für einen Dichter

Die Touristen reisen wieder ab. Aber was hat Nabokov neben seiner Faszination für Flora und Fauna im Montreux Palace festgehalten? Vielleicht die Ruhe, mit der ihn die Bediensteten ehrfurchtsvoll umfingen, die sich heute noch trotz des geschäftigen und teils hochpolitischen Treibens erahnen lässt. 2014 wurde im Palace die Syrien-Konferenz abgehalten.

Vielleicht die Vertrautheit von Antonio Traguero. Der portugiesische Barmann im „La Rose d’Or“, der 2007 in Rente ging, war einer der letzten Hotelangestellten, die Nabokov noch persönlich kannten, erzählt die Managerin Gisèle Sommer beim Spaziergang durch das palastartige Gebäude.

Vielleicht schätzte er einfach nur das Interieur. Flure so breit, dass Frauen mit Reifröcken nebeneinander gehen konnten. Oder die Grand Hall unten in Sichtweite der Rezeption: Marmorsäulen, Kamin, tonnenschwere Kronleuchter, ein Piano, Reliefengel an den Wänden, Amphoren mit Palmen. Viele Spiegel, reflektierende Fassaden. Wie geschaffen für einen Dichter, in dessen Büchern es vor Spiegelungen und Vexierspielen nur so wimmelt. So zum Beispiel in „Das wahre Leben des Sebastian Knight“, „Ada oder das Verlangen“ oder auch in „Durchsichtige Dinge“.

Hier hat er also geschrieben!

Im Jahr 1959 war Vladimir Nabokov zum ersten Mal im Montreux Palace.
Im Jahr 1959 war Vladimir Nabokov zum ersten Mal im Montreux Palace.

© akg / MONDADORI PORTFOLIO/Walter

In dem nebenan etwas ruhiger gelegenen Salon de Musique hat Nabokov sonntags Gäste empfangen, öfters den Schauspieler James Mason, Hauptdarsteller in Kubricks „Lolita“-Verfilmung. Im Salon ist noch alles so gehalten wie in den 1960ern und 70ern. Nur Schlüssel für die Mahagonitüren, sagt Gisèle Sommer, gibt es nicht mehr.

Dafür den Schlüssel-Code zum eigentlichen Ziel dieser Spurensuche, im Altbau des Palace. Ein schmaler Flurgang im sechsten Stock. An den Wänden die berühmten Schwarzweiß-Bilder des Fotografen Horst Tappe. Vor dem Zimmer ein Schild mit der Nummer „065“, die „Suite Nabokov“. Man fühlt sich ein wenig, als würde man den Autor ausspionieren. Das liegt wohl auch an der vorbereitenden Lektüre: Brian Boyds 1000-Seiten-Biografie „Nabokov – Die amerikanischen Jahre“ und „Stalking Nabokov“.

Man könne diesbezüglich ganz unbesorgt sein, sagt Gisèle Sommer. Es kommen öfters Nabokov-Aficionados ins Hotel und mieten sich im Zimmer 065 ein. Sie öffnet die Tür und zeigt auf den Balkon.

Als der Dokumentarfilmer Harald Bergmann 2013 im Zimmer 065 seinen Film „Der Schmetterlingsjäger“ drehte, hat er mit Schauspielern nachgestellt, wie der Schriftsteller und seine Frau auf dem Balkon Schach spielten. Die originale, schwarzweiß karierte Tischdecke gab es nicht mehr. Es dauerte Tage, bis eine ähnliche Decke besorgt und der Dreh fortgesetzt werden konnte.

Er glaubte nicht an die Zeit

Hier hat er also geschrieben! Rechts das Bett, links zwei crèmefarben bezogene Sessel, ein Bridgetisch. Viel vom Mobiliar – wie der Lampenschirm mit den geliebten Schmetterlingszeichnungen darauf – wurde von Dmitri nach dem Tod seines Vaters mitgenommen. Diverse Renovierungen haben Spuren hinterlassen. Nur der Lampenfuß und der Schreibtisch mit Riesentintenfleck in der Schublade sind original.

Der Tintenfleck glänzt, als sei er noch feucht, als könne mit einer Feder eingetaucht und geschrieben werden. „Sei nicht zu sicher, dass du die Vergangenheit aus dem Mund der Gegenwart erfährst“, heißt es in „Das wahre Leben des Sebastian Knight“. Oder: „Raum ist ein Schwärmen in den Augen, Zeit ein Summen in den Ohren“, aus dem Roman „Fahles Feuer“ von 1962, Nabokovs erstem in Montreux geschriebenen.

Der Dichter glaubte nicht an die Zeit. Und man vergisst tatsächlich, hier im sechsten Stock des Schwanenflügels, kurzzeitig beides: Zeit und Raum. Im Kopf die Gestalten aus Nabokovs Geschichten, die am Stehpult entworfen sind: Ada, Van Veen, Hugh Person, John Shade, Lucette …

Plötzlich ertönt eine Melodie. Musik aus Zimmer 060. Ein Hotelgast hört modernen Jazz im Frühjahr 2019 – neben dem Raum, in dem die Zeit seit 30, 40 Jahren innehält.

Links entlang am Quai Edouard-Jaccoud

Draußen vor dem Hotel Durchgangsverkehr. Ein Bus auf der Avenue Claude Nobs. Touristen im Selfie-Modus, denen die Dichter-Statue im Garten des Palace, der so oft die Brille geklaut wurde, dann doch nicht mehr ganz so viel sagt wie manchem Russen oder Nabokovianer. Auch an den 22. April, an dem der Schriftsteller vor 120 Jahren geboren worden war, erinnern sich wenige.

Weiter runter zum Genfer See, links entlang am Quai Edouard-Jaccoud. Nabokovs Lieblingsspazierweg, unterm Arm die Tageszeitung vom Kiosk gegenüber, der nicht mehr da ist. An der Seite seine Frau Véra, rechts auf dem See Haubentaucher und Schwäne, davor am Blütenrand Perlmutterfalter.

Véra Nabokov lebte bis kurz vor ihrem Tod 1991 im Palace Montreux. Dmitri starb 2012. Er ist neben seiner Mutter und seinem Vater auf dem Friedhof Clarens begraben, ein paar Hundert Meter vom Grand Hotel entfernt. Ein frischer Strauß Blumen steht auf dem Marmorstein. Links daneben, zwischen den Kieseln, ein künstlicher lila Falter.

Auf der Zugfahrt zurück aus dem Kanton Waadt kommen die beiden Skifahrer in Erinnerung, die zwei Schmetterlinge oben auf dem Rochers-de-Naye gesehen haben wollten. In der Zeitung ein Bericht über das Insektensterben.

Wo und wie lange hätte Nabokov heute wohl gesucht, in Kniestrümpfen und kurzer Hose, auf dem Weg zum Gipfel?

Reisetipps für Montreux

Hinkommen

Mit der Bahn in knapp zehn Stunden über Lausanne ab 130 Euro Sparpreis.

Unterkommen

Zimmer im Montreux Palace kosten ab 400 Euro pro Nacht. Auch nah am Genfer See liegt das Eurotel Montreux, ab etwa 130 Euro. Weitere Infos unter: myswitzerland.com.

Rumkommen

Sehenswert ist das Schloss Chillon, eine Wasserburg und der Lieblingsort von Lord Byron, mit dem Linienbus in 15 Minuten erreichbar. Ein paar Kilometer westlich, in Corsier-sur-Vevey, befindet sich Charlie Chaplins einstige Villa.

Zur Startseite