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Nächste Woche tanzen wieder Tausende Menschen auf dem Melt! zu vorwiegend elektronischer Musik.

© Stephan Flad

Melt!-Festival: Ein Provisorium für 20.000 Feierwütige

Jedes Jahr kommen Popstars aus aller Welt in einen stillgelegten Tagebau – und bringen Glamour nach Sachsen-Anhalt. Das nennt sich dann: Melt!-Festival. Die Vorbereitungen sind enorm.

Eine gute Woche war vergangen, seitdem die amerikanische Rapperin Nicki Minaj darauf bestanden hatte, man möge ihr umgehend rosafarbene Zahncreme beschaffen. Rosa Zahncreme, an einem Sonntag zur Ferienzeit, auf einer von Wasser und Schilf umgebenen Halbinsel im viertdünnstbesiedelten Landkreis Sachsen-Anhalts, mitten im vollgelaufenen Restloch eines Braunkohletagebaus. Stefan Lehmkuhl stand am Ufer und sah den Sonnenaufgang.

Eine gute Woche war um, in der diese Halbinsel namens Ferropolis wieder einmal alle ihr zugedachten Rollen spielte. Sie war ein Konjunkturprogramm für ihr Umland und gleichzeitig ihr Parasit. Sie war die Fee, die Wünsche erfüllt. Eine Erziehungsanstalt, ein Überraschungsei und ein Utopia. Vor allem aber war sie Las Vegas, Disneyland und Freizeitpark Rust in einem.

Genauso wolkig müssen Lehmkuhls Gedanken gewesen sein, damals vor einem Jahr. Wenn es denn überhaupt welche waren, und nicht bloß das erlöschende Synapsenfeuer eines übermüdeten Mannes. „Da ist mir ein Licht aufgegangen“, sagt Lehmkuhl heute. Wie wäre es, wenn wir beim nächsten Mal ein bisschen umbauen?

Auf jede Eingebung folgt ein Vielleicht

Lehmkuhls Beruf ist damit fast hinreichend beschrieben. Er muss in die aufgehende Sonne schauen können und dabei Ideen haben. Lehmkuhl organisiert Musikfestivals. Er kauft Musiker für Auftritte ein und muss dabei nicht nur auf das Geld, sondern auf alles Mögliche achten. Auf jede Eingebung und jedes Vielleicht.

Wenn er einmal etwas nicht bedacht hat, wie plötzlich erwachende Wünsche nach Zahnpflegeprodukten zum Beispiel, muss klar sein, dass wenigstens jemand von seinen Kollegen nebst Auto für genau solche Fälle bereitsteht, um die Tankstellen der Umgebung abzuklappern.

Alles hat Auswirkungen auf alles. Am Ende stehen dann Bühnen und Container in der Gegend herum.

100 Dixi-Klos und 120 Duschen

Lehmkuhl organisiert das „Melt!“. Einmal im Jahr verwandelt sich die sachsen-anhaltinische Restloch-Halbinsel in eine Stadt für 20.000 Menschen. 200 Kilometer Elektrokabel werden verlegt, 100.000 Kilowattstunden Strom verbraucht. Lastwagen laden 100 Dixi-Klos ab, 64 Wassertoiletten, 120 Duschen in Containern und 20 Urinale.

Neun Kassencontainer, 16 Container für Organisationsbüros. 1000 Kubikmeter Wasser werden pro Festivaltag gebraucht. Elf Kühllaster für die Lebensmittel. 260 Tonnen Müll müssen weggefahren werden. 50 Hektar groß sind die Park- und Zeltplätze. Das eigentliche Festivalgelände, da, wo die Musik spielt, misst 91.000 Quadratmeter.

Ferropolis gleich Donaueschingen

Eine umzäunte Lego-Landschaft entsteht, die für ein paar Tage im Jahr zumindest die Grundbedürfnisse ihrer Insassen befriedigen muss. Es geht um Strom und Wasser, um Essen und Trinken und Platz zum Schlafen und zum Parken. Um Wachpersonal und Rettungsschwimmer. Das alles muss funktionieren. Einwohnerzahlenmäßig ist sie so groß wie Luckenwalde, Burgwedel oder Donaueschingen.

Doch warum sagt Lehmkuhl jetzt, dies alles sei gar nicht das Ziel, das Ziel sei, „dass das Bild dem Gefühl entspricht“?

Der Weg zu ihm führt in eines der Kompetenzzentren der deutschen Feierindustrie, nach Berlin-Kreuzberg. Nah am Schlesischen Tor steht ein altes Fabrikgebäude mit Spreeblick und glasierten Backsteinwänden. In der Toreinfahrt trocknet Erbrochenes.

Euro-Paletten und Rennräder

Hier arbeiten 50 Menschen für die Melt! Booking GmbH & Co. KG, für Firmen, die andere Musikfestivals und Konzerttourneen organisieren, Party-Vermarkter sitzen hier, Werber, Verkäufer, die alle zur Hörstmann-Unternehmensgruppe gehören, einem der Großbetriebe auf dem deutschen Veranstaltungsmarkt.

Das Büro ist weit und licht, einzelne Bereiche sind abgeteilt mit Euro-Paletten. Zwei Rennräder lehnen an der Wand. Vier Hunde wetzen über die Dielen. Fotos hängen an den Wänden, Live- Schnappschüsse der Gesichter von Pet-Shop-Boys-Sänger Neil Tennant, Oasis-Großmaul Liam Gallagher und Pulp-Frontmann Jarvis Cocker.

Die beste Uhrzeit für Portishead

So sieht die Industrie-Idylle vor dem Ansturm der Besucher aus.
So sieht die Industrie-Idylle vor dem Ansturm der Besucher aus.

© Ferropolis

Lehmkuhl fällt ein bisschen auf hier. Er wirkt wie auf Urlaub, oder als sei er gerade auf dem Weg zum Bäcker, die Sonntagsbrötchen holen. Er ist 37 Jahre alt, trägt eine kurze Hose, ein gestreiftes T-Shirt und Flip-Flops. Am Kragen baumelt die Sonnenbrille.

Er sagt: Er habe das Melt! immer so behandelt, „als sei es das Festival, auf das ich selber gern gehen würde“. Das heiße eben auch, seine eigenen Gefühle dort wahrzunehmen, so wie damals im vergangenen Jahr, bei Sonnenaufgang. Seine Gefühle damals stimmten, nur eben das Bild dazu stimmte nicht.

Dunkel und verkopft

Seeufer, der Tag brach an – und dann lief dort auf der Bühne „kontemporäre elektronische Bassmusik. Dark, dunkel, verkopft. Ich dachte, die Bühne sollte man lieber mit einer weicheren Musik bespielen. Die zum Wasser passt, zum Sonnenaufgang, zu den tanzenden Füßen im Wasser.“

So wird es sein in diesem Jahr. Das Verkopfte findet 200 Meter weiter statt, an einem Umspannwerk, das auf der Halbinsel steht. Insgesamt werden am kommenden Wochenende elf Orte dort bespielt. Musiker wie die deutsche Hip-Hop-Band Deichkind, die viel gelobte Rockband Tame Impala und das englische Elektronikduo Disclosure spielen auf den Bühnen.

Überhaupt die Morgenstunden. Lehmkuhl sagt: „Vier Uhr morgens guckt man sich keine künstlerisch anspruchsvolle Musik mehr an. Da will man loslassen, da will man sich keinen Kopf mehr darum machen, was man gerade anderswo verpassen könnte.“

Blaue Stunde oder Sonnenuntergang?

Muss er alles mitbedenken, während er Musiker-Agenturen anschreibt und Terminpläne macht. Wer tritt wann auf und wo? „Zu welcher Uhrzeit ist welche Stimmung auf dem Gelände?“, sagt Lehmkuhl. „Zur blauen Stunde, zum Sonnenuntergang, zum Sonnenaufgang?“ Und dann muss er seine Kollegen fragen, ob seine Ideen überhaupt funktionieren können.

„Wann sich wie viele Menschen wo genau befinden, das spielt in andere Gewerke mit rein. Das interessiert die Barbetreiber, die Security.“ Manchmal müsse er „zwei starke Künstler gegeneinandersetzen, damit die Leute sich nicht vor einer Bühne drängen und es dann zu voll wird.“

Manchmal wird er zum Volkserzieher. „Wenn ich Portishead beim Melt! habe“ – vor zwei Jahren trat die legendäre Trip-Hop-Band auf –, „dann will ich, dass das alle sehen. Ist auch manchmal bisschen pädagogisch.“ Auf den Bühnen ringsum war Ruhe.

Tonmasten in Rost-Design

Grenzen setzt Lehmkuhl regelmäßig die Physik. Er wollte einmal Tonmasten im Rost-Design. „Da komm’ ich dann und sage, so und so stelle ich mir das vor. Und dann kommt der Tonmann und sagt, wenn du da viel Stahl haben willst, dann scheppert das. Da beschweren sich die DJs bei den Bässen.“ Der Tonmann sage dann auch: „An einen Roststahlturm kannst du keine Eineinhalb-Tonnen-Tonanlage dranhängen. Das ginge nur dahinter, an einem Extra- Aufbau – aber der macht dann wieder das Ambiente kaputt.“

Das Ambiente spielt eine große Rolle. Auf dem Festivalgelände stehen fünf riesige Tagebaumaschinen, ein Eimerkettenbagger, ein Raupensäulenschwenkbagger, ein Schaufelradbagger und zwei sogenannte Absetzer. Zwischen 800 und 2000 Tonnen schwere Ungetüme, die vor sich hinverwittern. Sie haben keine Funktion mehr außer der, daran zu erinnern, dass die Gegend einmal eine Tagebaulandschaft war. In den Festivalnächten werden sie von bunten Scheinwerfern angestrahlt.

Steigende Nachfrage

Übers Jahr kostet der Eintritt aufs Gelände sechs Euro, die Jahreskarte sieben. Wer die drei Melt!-Tage erleben will, muss 136 Euro bezahlen.

Lehmkuhl seufzt nun ein bisschen, ja, das Geld. Die Konkurrenz unter den Festivals ist groß in Deutschland, man darf es mit den Preisen nicht übertreiben. Andererseits: Vieles werde teurer, in den vergangenen Monaten war das besonders so. Mieten für Zelte, Toiletten, Container. Die Nachfrage danach ist immens gestiegen, das Angebot kam nicht mit. Lehmkuhl sagt: „Die Flüchtlingssituation hat da etwas Kreativität erfordert.“

Ein merkwürdiger Moment ist das, als Lehmkuhl davon spricht. Selbst hier also, in einem Großraumbüro, in dem an nichts anderem gearbeitet wird, als Fantasielandschaften für junge, mitteleuropäische Großstädter zu schaffen, bricht die Wirklichkeit ein.

Um die Ecke eine AfD-Hochburg

Lehmkuhl setzt noch einen drauf: „Wir sind in Sachsen-Anhalt, wir sind bei Bitterfeld, der AfD-Hochburg, wo Leute offenbar Ansichten haben, die nicht unsere sind.“ Vielleicht sogar komplett gegenteilige. Im Wahlprogramm der sachsen-anhaltinischen AfD stand der Satz: „Identitätsstiftende Kulturpflege statt nichtssagender Unterhaltung!“

Kultureinrichtungen seien „in der Pflicht, einen positiven Bezug zur eigenen Heimat zu fördern“. AfD-Kulturpolitik würde „in der Pflege einer deutschen Leitkultur eine sehr wichtige Aufgabe“ sehen.

Ein Telefonnetz für 25.000 Geräte

Der Aufbau kostet Kraft.
Der Aufbau kostet Kraft.

© Ferropolis

Das liest sich wie ein Angriff auf das Festival. Die Musiker sind international, das Publikum auch, geboten wird Unterhaltung. Wenn es laut wird auf den Bühnen, wird dort oft nicht nur nichts gesagt, es wird nicht einmal gesungen. Gehört ein DJ wie der in Berlin geborene Ben Klock, der regelmäßig im Berghain und diesmal auf dem Melt! auflegt, zur deutschen Leitkultur?

Die Melt!-Organisatoren setzen dem ihre Festivalordnung entgegen. „Damit der Festivalbesuch ein schönes Erlebnis mit bleibender Erinnerung wird, bitten wir alle Festivalbesucher um Toleranz, Rücksichtnahme, Zivilcourage und Hilfe in Notfällen.“

Besucher aus Wien, Berlin, London

Ansonsten ist davon auszugehen, dass die meisten Besucher vom Umland wenig mitbekommen. Sie bleiben in ihrer Blase auf der Halbinsel, vollverpflegt und unterhalten, angereist aus Berlin, London, Amsterdam, Wien. Lehmkuhl kann die Herkunftsorte von den Buchungen ablesen. Aus Sachsen- Anhalt selbst, sagt er, kämen wenige.

Wenn die Musikwütigen wieder wegfahren, werden sie plattgefahrene Äcker zurücklassen. Doch die Festivalgäste geben auch Geld aus, das in der Gegend bleibt. Eine Hochrechnung aus dem Jahr 2011 hat folgende Zahlen ergeben: Eine Million Euro für Essen, Getränke, Restaurantbesuche jenseits des Festivalgeländes geben sie aus.

Wenn es regnet, kann es vorkommmen, dass im nahen Gräfenhainichen die Gummistiefel ausverkauft sind. 200 000 Euro kommen noch obendrauf, die bezahlt der Veranstalter unter anderem für Hotels.

Sachsen-Anhalt gibt fünf Millionen Euro

Weil das Melt! nicht das einzige Festival auf der Halbinsel ist, sondern eine Woche zuvor stets das Hip-Hop-Fest „Splash“ stattfindet und daneben noch etliche Freiluftkonzerte von Rock bis Klassik, war dies dem Land Sachsen-Anhalt fünf Millionen Euro wert. Unter anderem wurde davon ein Backstage-Gebäude gebaut, blaue, übereinandergestapelte Schiffscontainer direkt am Seeufer.

Sie haben Mobilfunk hier und mobiles Internet. Das Telefonnetz sei für 25.000 Geräte ausgelegt, das W-Lan hat eine Datenübertragungsrate von 300 Mbit. Das ist das 30-Fache dessen, was vor einem Monat zum Hotspot-Start am Brandenburger Tor zur Verfügung stand.

Gabelstapler piepsen

Zehn Tage vor dem Melt! ist naturgemäß wenig davon zu sehen. Die Bühnen sind noch nicht da, dafür werden gerade 20 Chemie-Toiletten abgeladen. Sechs Männer bauen ein Gerüst, wenn es fertig ist, wird es für Zigaretten werben. Ein paar Gabelstapler fahren Stangen hin und her. Im Rückwärtsgang piepsen sie, ansonsten ist es still.

Alexander Gläß, „Chief Executive Producer Events“ und damit einer derjenigen, die Lehmkuhls Eingebungen umsetzen, rennt über das Gelände. Er ist auch derjenige, der sich im vergangenen Jahr um Nicki Minajs Zahnpastawünsche zu kümmern hatte.

Durchschnittlicher Diskoschallpegel

Sein provisorisches Büro befindet sich in einer Baracke. Wenn er zwischendurch immer mal wieder dort vorbeikommt, schickt er Luftbilder und Grundrisspläne an die Containerlieferanten und die Leute, die hier in den nächsten Tagen 56 Gastronomiestände aufbauen werden. Am Abend muss er noch nach Wittenberg, die Emissionsprognose beim zuständigen Amt abgeben – die Lärmvorhersage. 99 Dezibel erwartet Gläß maximal, das ist ein durchschnittlicher Diskoschallpegel.

Die nächstgelegenen Ortschaften, Jüdenberg und Gräfenhainichen, sollte davon kaum noch etwas erreichen. Allerdings, sagt Gläß, gebe es Schallfrequenzen, die könnten sich in speziellen Luftschichten bewegen und fielen dann zehn Kilometer entfernt irgendwo wieder runter auf den Boden. Tieftönender Schall vor allem. Jene dark-dunkle Bassmusik, von der Lehmkuhl sprach und die er in diesem Jahr ins Halbinsel-Hinterland verlegt hat, ans Umspannwerk, unter dessen Dachfirst jetzt noch Schwalben nisten.

Sie werden villeicht verschwinden, wenn das Melt! beginnt. Dafür ist dann Lehmkuhl wieder da, zum In-sich-Hineinhorchen und zum Reagieren „auf Probleme, die man vorher nicht kennt“. Vielleicht wird er sich wie im vergangenen Jahr morgens gegen fünf irgendwo hinstellen und das Gefühl mit dem Bild abgleichen. Bis dann zwei Lichter aufgehen. Ein großes rundes am östlichen Horizont. Und ein kleines in seinem Kopf.

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