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Der Glaube an die "Tagesschau" (hier mit Judith Rakers) - gilt das für gesamtdeutsches Publikum?

© NDR

Westfernsehen und Ostfernsehen: Ein akuter Fall enttäuschter Liebe

Wenn Ostdeutsche Berichte über sich im Fernsehen sehen, kommt es ihnen meist vor wie Auslandsberichterstattung. Ist das stimmig?

„Wen ich sehr schnell erschießen würde, das wäre Frau Christiansen, weil sie so oft die Chance gehabt hätte, eben diese Leute auch wirklich zu schlagen, diese ganzen alten blöden Männer.“ So sprach 2004 ein Dresdner auf der Bühne im Schauspielhaus in Hauptmanns Drama „Die Weber“. Volker Lösch holt immer das Volk auf die Bühne, hier bildete es den Chor der „Weber“, der Wutbürger von 1844. Das Volk durfte eigene Texte mitbringen.

Man konnte diese theatralische Wortmeldung als ungehobelten ostdeutschen Misstrauensantrag gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt werten. Es war ein Chor der „Betrunkenen und Verzweifelten“. 2004, im Jahr vor der Einführung von Hartz IV. Und nun hat Sachsen-Anhalt nach einer Beinahe-Regierungskrise die Erhöhung des Rundfunkbeitrags blockiert. Schon bei vorausgehenden Anlässen gleicher Art war es denkbar knapp gewesen im Osten, etwa in Sachsen.

Dabei hatte der ARD-Vorsitzende (und WDR-Intendant) Tom Buhrow den anhaltinischen Abgeordneten – sinngemäß zumindest – noch persönlich erläutert, dass sie hier gar nichts wählen, sondern einfach Ja sagen sollen. Reine Formsache. Im Osten kennt man das. Es stimmte die Abgeordneten nicht konzilianter. Und der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, erläuterte: „ARD und ZDF sind in vielen Sparten Westfernsehen geblieben.“

Schon 2004 war da also dieses grundsätzliche Misstrauen in die westdeutschen Eliten. Wie lange schon wurden ARD und ZDF im Osten als Staatsfernsehen West wahrgenommen? Eigentlich ein unglaublicher Vorgang. Denn ARD und ZDF waren vor der Wende für die meisten Ostler Heimat gewesen. Wahrheit ist möglich! Manche haben – die Autorin gehört dazu – zu Hause niemals „Aktuelle Kamera“ gesehen.

Die Mienen der Erwachsenen verfinsterten sich schon, wenn dieses Format versehentlich ins Bild geriet. Zur Schule ging man nach der „Internationalen Presseschau“ des Deutschlandfunks, und ein Sonntags-Mittagessen ohne Werner Höfers „Internationalen Frühschoppen“ hat es wohl nie gegeben. Medial gesehen sind die meisten Ostdeutschen Kinder des Westens. Den Ostkanälen glaubte man fast nichts, den Westsendern fast alles. Es muss sich also um einen akuten Fall enttäuschter Liebe handeln. Und um gebrochenes Vertrauen. Sehr schwerwiegend. Aber wie konnte das geschehen?

Wenn die Ostdeutschen heute Berichte über sich im Fernsehen sehen oder im Radio hören, komme es ihnen meist vor wie Auslandsberichterstattung. Das hört man oft. Nachrichten von einem fremden Stern. Und sympathisch sind die Außerirdischen eigentlich nie.

Die reine Oberflächenbetrachtung ergäbe vielleicht Folgendes: Nicht nur, dass der Osten dem Westen gehört. Eliten sind grundsätzlich westdeutsche Eliten, gerade im Osten, daran hat sich selbst dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung nicht viel geändert. Das liegt nicht an der allgemeinen Insuffizienz der ethnischen Minderheit Ost, sondern am Reproduktionsverhalten der Eliten. Sie zeugen ihre Nachkommen vornehmlich aus sich selbst. „Wiedervereinigung“ sagen ohnehin nicht mehr viele im Osten, sie sagen mehr „Übernahme“ oder gar „Kolonisierung“. Es ist präziser. Denn Vereinigungen setzen Gleiche voraus, oder zumindest doch solche, die sich als Gleiche anerkennen.

Wie über vieles denkt der Osten auch über Russland anders

1990 ist in der Tat das entscheidende Datum. Nicht nur, dass die Ostler ab sofort unter der Deutungshoheit des Westens standen, sie haben ein grundverschiedenes Schlüsselzeitbewusstsein, und das grundiert alles, unthematisch, aber darum umso mehr, auch jede Berichterstattung.

Der Westen denkt rechtsförmig. Er glaubt, alles, was die Ostler heute sind, wurden sie durch die DDR-Diktatur. Also Diktatur-Folgeschäden. Rechte militante Töpfchensitzer mit kleinen Springerstiefeln und so weiter. Im Osten weiß man: Die ostdeutsche Gesellschaft von heute gründet in der Nachwendezeit. Ein so radikaler Umbruch aller Lebensverhältnisse in so kurzer Zeit ist geschichtlich einmalig. Entwurzelung im Zeitraffer.

Kinder sollten nach Goethe von ihren Eltern vor allem zwei Dinge bekommen: Wurzeln und Flügel. Die Jugendlichen Ost der Neunziger bekamen oft beide nicht. Und verachteten ihre arbeitslosen Eltern: Wie konnten sie das alles einfach mit sich machen lassen? Es gibt eine Szene in Christian Schwochows großartigem ARD-Film „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ über das Mörder-Trio Mundlos, Böhnhardt und Tschäpe. Da steht der Uwe Mundlos des Films schon in der Tür und sagt zu seinem Vater, bis eben Professor an der Universität Jena: „Wir werden nie so wehrlos sein wie Ihr!“

Ohnmacht war ein beherrschendes Gefühl Ost der Neunziger. Die Jungen zogen oft ihre eigenen, fatalen, irrwitzigen Lehren. Die Älteren verstummten. Ende des gerade selbst erkämpften Aufbruchs in die offene Gesellschaft. Und der Westen sagte ihnen fortan, wer sie sind. Die Ostler lebten früher in Distanz zu ihrem Staat, zu dem, was er sagte, und genau das machen sie heute wieder. Sie haben ihre alte Daseinsform einfach wieder aufgenommen. Aber darf man fürs Weghören, Wegsehen erhöhte Gebühren verlangen, fragt sich mancher. Und die AfD fragt am lautesten.

Wer 2004 in Dresden nach den „Webern“ noch zu den Foyergesprächen ging, wusste, es wird ernst. Spätestens jetzt hätte man reden müssen. Aber was geschah? Sabine Christiansen beauftragte ihren Anwalt, die Stelle per einstweiliger Verfügung streichen zu lassen. Zehn Jahre später, 2014, zog der Protest hinaus auf die Straße. Das war Pegida, eine misstönende Mundöffnung, aber eine Mundöffnung.

Nicht zufällig nach den Ereignissen in Russland und der Ukraine und den offiziellen Reaktionen von ARD und ZDF darauf. Wie über vieles denkt der Osten auch über Russland anders. Das wird auch so bleiben, und es ist nicht sofort Putin-Rechtfertigung. Aber für solche Nuancen – Nuancen um alles! – hat man im Westen nur selten Gehör.

Leider geben nun die Leute, die völlig ohne Nuancen auskommen, im Osten viel zu oft den Ton an. Natürlich auch meist Westler. Beifall kommt von denen, die zu lange geschwiegen haben und nun nur noch brüllen können, selbst wenn sie leise reden. Ja, dieses Land – vor allem der Osten – braucht die Öffentlich-Rechtlichen, jetzt erst recht. Aber vielleicht etwas andere? Die simple Unterscheidung von Diktatur und Demokratie erklärt so vieles nicht. Schon gar nicht, warum sich die Demokratie nach 1990 im Osten so diktatorisch anfühlte. „Zu Friedenszeiten“, sagten gar manche, wenn sie von der DDR sprachen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, den fremden Stern zurückzugewinnen.

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