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Das Ehepaar Boekel 1942, aufgenommen während eines Heimatbesuchs von Walter Boekel, der von der Front kam.

© ZDF

Was Krieg aus Menschen macht: Sog, Rausch und Kälte

Sein Vater war Wehrmachtsoffizier: Christoph Boekel verarbeitet erneut dessen Briefe und Tagebücher zu Roadmovie und persönlicher Reflexion.

In Südfrankreich gerät Walter Boekel ins Schwärmen. „Hier ist jeder Ehrgeiz hinfällig“, schreibt er im März 1943 an sein „liebes Cherilein“. Am Rande der Cevennen möchte der Wehrmachts-Offizier, wenn Europa nach dem Krieg unter deutscher Führung vereint ist, mal ein Frühjahr und einen Sommer mit seiner Familie leben – seine Frau Hedwig ist das erste Mal schwanger. „Es ist das Land für uns“, schreibt er begeistert. Aber daraus wurde nichts, weder aus dem deutschen Sieg noch aus Boekels Familienglück unter südfranzösischem Himmel.

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Fast während des gesamten Zweiten Weltkriegs war der Soldat Walter Boekel im Einsatz. Boekel, Jahrgang 1914, hatte Philosophie bei Martin Heidegger und Zeitungswissenschaften studiert. Er hinterließ eine Fülle an Briefen und Tagebüchern, in denen er in geschliffener, zum Teil auch schwülstiger Sprache Zeugnis ablegte. Dass diese Texte die Grundlage für einen nach dem Krieg zu schreibenden Roman bilden sollten, ist ihnen anzumerken. Den Roman gibt es nicht, Aufzeichnungen aus den Kriegsjahren sind nun Vorlage für den bereits zweiten Film seines Sohnes Christoph. „Der Sog des Krieges“ erzählt, wie die Kriegserlebnisse den Vater geprägt und das Familienleben letztlich zerstört haben.

Bereits Ende der 1980er Jahre hatte Christoph Boekel „Die Spur des Vaters“ veröffentlicht, der sich vor allem auf den Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941 konzentrierte und damals mit dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichnet worden war. Zumindest zeitlich schließt „Der Sog des Krieges“ an: Walter Boekel wird Ende 1942 Ausbilder beim Bataillon 999, einer Truppe aus Kriminellen und politischen Häftlingen, die sich im Afrika-Einsatz bewähren sollten.

[„Der Sog des Krieges“, 3sat, Montag, 22 Uhr 25]

Die weiteren Stationen Boekels in Belgien, Südfrankreich, Tunesien und dem ehemaligen Jugoslawien lassen den Film wie ein Roadmovie erscheinen. Sein Sohn kehrte an die Orte zurück und stellt den Fotodokumenten Ansichten aus der Gegenwart gegenüber. Zeitzeugen aus den besetzten Ländern sorgen für eine andere Perspektive als die zuweilen schwer erträgliche des Walter Boekel, der von der „deutschen“ Überlegenheit beseelt war.

Im Gegensatz zum ersten Film wendet sich „Der Sog des Krieges“ stärker nach innen: Christoph Boekel spricht mit seinen beiden Brüdern Michael und René vor der Kamera über die Kindheit, den Vater und das Familienleben. Aber auch wenn es „nur“ um eine einzelne Familie und zum Teil sehr persönliche Details geht, werden sich viele Zuschauerinnen und Zuschauer aus der Nachkriegsgeneration wohl in den Gesprächen der Brüder wiederfinden. Schließlich waren das „jahrzehntelange drückende Schweigen“ und das Leben mit einem meist abwesenden, kalten Kriegs-Heimkehrer als Vater kein Ausnahme-Phänomen.

Kino-Auswertung geplatzt

Der Dokumentarfilm „Der Sog des Krieges“ sollte vor zwei Jahren in die Kinos kommen. Die eindrücklichen Landschaftsaufnahmen, die ruhige und ausführliche Erzählweise dieses fast zweistündigen Films sind wohl eher für zahlende Besucher vor großer Leinwand als für den ungeduldig zappenden Fernsehzuschauer gemacht. Aber dann machte die Pandemie dem Autor, Regisseur und Koproduzenten einen Strich durch die Rechnung

Immerhin: Nach der Ausstrahlung ist „Der Sog des Krieges“ ein Monat lang in der Mediathek abrufbar. Eine perfekte Ergänzung wäre es gewesen, Boekels erste Arbeit ebenfalls wieder zu zeigen. Doch dessen Ausstrahlung scheiterte an Rechte- und Kostenfragen, wie eine 3Sat-Sprecherin bestätigte. Leider nicht das erste Mal, dass ein Film, der von der Allgemeinheit finanziert wurde und von Bedeutung ist, späteren Generationen vorenthalten bleibt.

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