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Familienbande.  Der Polizist John (Kyle Chandler, rechts) weiß nicht, ob er seinem heim- gekehrten Bruder Danny (Ben Mendelsohn) wirklich trauen kann.

© Tsp

US-Serie "Bloodline": Sie wissen nicht, was sie tun

Wohl dem Freund des nuancierten Geschichtenerzählens, der nicht auf ARD, ZDF & Co. angewiesen ist: Mit „Bloodline“ hat Netflix eine der besten Serien der Saison im Programm.

Man kennt das Gefühl: in diese Familie, in diese fiese Familiengeschichte möchte ich nicht hinein gezogen werden. Mit denen möchte ich nichts zu tun haben. So was passiert uns nicht. Und plötzlich steckst du selber drin. So ergeht es der Familie Rayburn in „Bloodline“, eine der faszinierendsten Serien, die derzeit auf Streamingportalen zu sehen ist. „Bloodline“ läuft auf Netflix, und wer sich in diesen Tagen inspirationslosen Feiertags-Fernsehens mit den Rayburns, mit den 13 Teilen der Serie aufs Sofa zurückzieht, steckt als Zuschauer selber fest, kommt da erst mal nicht mehr raus.

Die Rayburns betreiben seit 45 Jahren ein kleines, bilderbuch-artiges Hotel auf den Florida Keys. Kilometerweiter Sandstrand, Sonne, Palmen, Hängematten. Ein Vorzeige-Ort. Eine Vorzeige-Familie. Als der älteste, ungeliebte Sohn Danny nach Jahren dorthin zurückkehrt, brechen alte Verwerfungen neu auf. Anfänglich scheinen sich seine Geschwister, der Polizist John (Kyle Chandler), die Anwältin Meg (Linda Cardellini) und Kevin (Norbert Leo Butz) vor allem um das Verhältnis zwischen Danny (Ben Mendelsohn) und ihren Eltern zu sorgen. Doch auch sie haben Geheimnisse aus Tagen der Kindheit, die den Familienfrieden stören und mit dem längst überwunden geglaubten, ominösen Unfalltod einer weiteren Schwester zu tun haben.

Wissen Sie überhaupt, was sie wollen?

Den ganzen Plot nachzuerzählen, ist müßig und wegen Spoilergefahr auch gefährlich, man muss sich das anschauen. Worüber ließe sich dabei mehr wundern: Zum x-ten Male darüber, dass so etwas in Deutschland nicht geschrieben und produziert wird? Über die fast biblische, shakespearesche Wucht, mit der die Brüder Todd und Glenn Kessler sowie Daniel Zelman diese Geschwistergeschichte in Szene gesetzt haben, halb Familiendrama, halb Thriller? Den Zuschauer immer wieder an der Nase herumführend, was die Verteilung von Gut und Böse, die Frage von gerecht und ungerecht betrifft. Dabei Grundfragen behandelnd wie: Was erwarten die Menschen vom Leben? Von sich, von ihren Nächsten? Wie bekommen sie das, was sie wollen? Vor allem: Wissen Sie überhaupt, was sie wollen?

Folge für Folge brechen alte Wunden auf, mit Dannys Erscheinen kommt eine nervöse Unruhe in die Familie, die von den Eltern (mal wieder Sam Shephard als Patriarch, Sissy Spacek als liebende Mutter) mühsam zusammengehalten wird. Voran treibt die Frage, ob man diesem Danny überhaupt trauen kann, wer hier Opfer ist und wer Täter, was der Bruder seinen Geschwistern vorzuwerfen hat, was er im Schilde führt, kulminierend in einem spektakulären Shutdown.

Dieses Finale wird von Anfang an mittels des Flash-Forward-Prinzips immer wieder szenenhaft angedeutet. Dazu Rückblenden und Johns Kommentare aus dem Off: „Etwas Schreckliches wird passieren, und nichts kann das verhindern.“ Eine gewagte, eine ungewöhnliche Erzählstruktur, vielleicht sogar eine Zumutung.

Ein 13-stündiger Film

Die Produktion ist die erste Kooperation von Netflix mit einem großen Hollywood-Studio, mit Sony Pictures Television. Die Zusammenarbeit mit Netflix, hat Todd Kessler (schrieb das Buch zu zwei Staffeln einer weiteren grandiosen Serie: zu „The Sopranos“) in einem Interview gesagt, bedeute für das Autoren-Trio, „einen dreizehnstündigen Film schreiben zu dürfen“. Das sei „eine entschieden andere Art, Geschichten im Fernsehen zu erzählen, weil man viel tiefere Nuancen in den Figuren zeigen kann und weil man den Zuschauern ihre eigenen Rückschlüsse erlauben kann, anstatt ihnen zu sagen, was sie von den Ereignissen zu halten haben“.

Ähnliches ließe sich auch von „Transparent“ sagen, einer anderen herausragenden, ja, Familien-Serie, über einen Mann, der heimlich als Frau lebt und seine Kinder, die desorientierter sind als er selbst. Der Zehnteiler läuft auf Amazon Prime Video, dem Konkurrenten von Netflix, und bekommt demnächst eine zweite Staffel, ebenso wie „Bloodline“. Darüberhinaus laufen derzeit im Bezahlfernsehen neue Folgen von „House of Cards“ und „Mad Men“ (abrufbar via Sky Go).

Wohl dem Freund des nuancierten Geschichtenerzählens, der nicht mehr nur auf ARD, ZDF & Co. angewiesen ist.

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