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Doppelt so viel Platz. Mit dem Ende des 140-Zeichen-Limits verliere Twitter sein Alleinstellungsmerkmal oder gar seine Existenzberechtigung, sagen Kritiker.

© AFP

Twitter: Sag’s breiter - von 140 auf 280 Zeichen

Vor Kurzem erweiterte Twitter die Länge seiner Tweets auf 280 Zeichen. Wird die Kommunikation nicht schwafelig? Wem hat die Änderung genützt?

Vor drei Monaten brach der Kurznachrichtendienst Twitter ein scheinbares Naturgesetz, indem er die maximale Länge seiner Beiträge verdoppelte. Nutzer protestierten: Mit dem Ende des charakteristischen 140-Zeichen-Limits verliere Twitter sein Alleinstellungsmerkmal oder gar seine Existenzberechtigung. Denn seit Twitters Start 2006 mussten Nutzer mit 140 Zeichen pro Tweet haushalten. 160 Zeichen hatte früher eine SMS, doch das Format wirkt inzwischen völlig aus der Zeit gefallen. Durch die Änderung muss sich niemand mehr kurz fassen. 280 Zeichen lang ist etwa dieser Absatz.

Droht den Nutzern mit dem gewonnenen Raum nun der „horror vacui“, die Angst davor, ihren Tweet nicht füllen zu können? Wohl kaum, glaubt Kommunikationswissenschaftler Martin Emmer von der Freien Universität Berlin (FU). Man könne ja immer noch 140 Zeichen oder weniger schreiben. Die weitaus meisten Twitterer täten das auch. „Bei der Erhöhung der Zeichenzahl besteht das Risiko, dass die Kommunikation auf Twitter schwafelig wird und Leser nicht mehr so schnell erkennen können, was die Kernaussage eines Tweets ist.“

140 Zeichen sind für sinnvolle Kommunikation schon auf Englisch kaum ausreichend; auf Deutsch definitiv zu wenig. Im Prinzip ist Twitter aber ein gutes Sinnbild für den politisch-medialen Diskurs der letzten 10 Jahre. Schreien, verkürzen, senden - statt erörtern, erklären und zuhören.

schreibt NutzerIn jay.boehner

Der Kurznachrichten-Dienst mit weltweit 330 Millionen Nutzern hatte die Ausdehnung der Zeichenzahl damit begründet, dass in Sprachen wie Japanisch, Koreanisch und Chinesisch, die nicht von der Änderung betroffen sind, doppelt so viele Informationen in einen Buchstaben passen wie etwa in Englisch, Spanisch oder Französisch. Zwar seien die Beiträge auf Twitter länger geworden, aber das Phänomen sei noch zu frisch, als dass es schon belastbare Forschungsergebnisse dazu gäbe, so Emmer.

Wissenschaftler beschäftigen sich immer wieder mit dem Dienst. Am Montag gab die Universität Münster bekannt, dass ein neues Projekt gemeinsam mit der FU Berlin die Kommunikation auf Twitter in Berlin und Jerusalem anhand von Daten aus den Twitter-Netzwerken untersuchen soll. Im Fokus stehen die Fragen, mit wem, an welchen Orten und zu welchen Themen getwittert wird und wie virtuelle urbane Räume entstehen.

Twitter würde plötzlich zugemüllt mit langen Beiträgen

Nach einer Testphase des 280-Zeichen-Limits im September veröffentlichte Twitters Produktmanagerin Aliza Rosen in einem Blogeintrag erste Beobachtungen. Erreichten vor der Umstellung neun Prozent der englischsprachigen Tweets das Zeichenlimit, waren es in der Testphase mit 280 Zeichen nur noch ein Prozent. Die Befürchtung, Twitter würde plötzlich zugemüllt mit langen Beiträgen, habe sich nicht bestätigt.

Nur fünf Prozent der Tweets seien über 140 Zeichen lang gewesen, nur zwei Prozent über 190 Zeichen. Mehr Platz mache es für Nutzer einfacher, ihre Gedanken schnell in einen Tweet zu fassen, ohne ihn lange anpassen zu müssen. Neuere Daten aus den Wochen nach dem offiziellen Start stellt Twitter noch nicht zur Verfügung.

Auch die Zahl der Likes, Retweets und Erwähnungen sei gestiegen, nachdem Nutzer mehr Platz zum Schreiben bekommen hatten, schrieb Rosen. Dadurch hätten diese mehr Follower gesammelt und mehr Zeit auf der Plattform verbracht. „Die Teilnehmer der Testgruppe sagten, dass sie mit der höheren Zeichenzahl zufriedener seien, weil sie sich besser auf Twitter ausdrücken und bessere Inhalte finden könnten.“

Dass die Erhöhung der Zeichenzahl den Dienst in Deutschland noch zu einem Massenphänomen macht, bezweifelt Martin Emmer allerdings wie andere Beobachter auch. Gerade hierzulande konnte Twitter kaum Fuß fassen und wurde zum Nischenmedium für Medienschaffende, Politiker und Personen aus der Öffentlichkeit. Doch für private Nutzer, die Alltägliches teilen, sei der Dienst weitgehend irrelevant, so Emmer. „Twitter hat mit der Erhöhung der Zeichenzahl ein Alleinstellungsmerkmal aufgegeben, das es lange ausgezeichnet hat. Die wirtschaftlichen Probleme von Twitter sind bekannt, ob es das löst, da habe ich meine Zweifel.“

Wie auch der Konkurrent Facebook hat Twitter starke Probleme mit Hassposts und Propaganda. Der Kurznachrichtendienst gerät immer wieder in die Kritik wegen seiner unzureichenden oder scheinbar willkürlichen Löschpraxis und seiner technischen Anfälligkeit für Stimmungsmache durch Bots, also Computerprogramme, die automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeiten und dadurch menschliche Interaktion vortäuschen – wie sich auch 2016 im US-Wahlkampf zeigte.

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