zum Hauptinhalt
Wie geht es weiter in Berlin? Anne Will und ihre Gäste am Sonntagabend

© dpa/Dietmar Gust/NDR

TV-Talk "Anne Will" zu Regierungsbildung: Das Politikschiff liegt auf der Werft

Noch ist offen, wer nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung politisch das Ruder übernimmt. Auch die Talkgäste von Anne Wills trugen nicht zur Klärung bei.

Von Caroline Fetscher

Was bisher im Seefahrerkrimi passierte: Kurz vor der Küste von Jamaika, eventuell sogar bei der Einfahrt in den Hafen, kenterte der Dampfer mit den Sondierenden an Bord. Grüne und Schwarze schienen auf Kurs, als die Gelben mit Ruck ins Ruder griffen und das Schiff zerschellte. Nun liegt es kieloben auf der Werft, und die große Reederei namens „Republik“ hofft auf Reparatur.

Indes nimmt das Casting der Crew aus CDU, CSU, SPD und Grünen seinen Lauf, potentielle Kapitäne, Stewards, Matrosen (m/w) melden sich zu Wort, wofür Talkshows eine besondere Bühne bieten. Am Sonntagabend lud Anne Will drei Parteienvertreter und einen Juristen zum Thema „Regierungsbildung extra-schwer – wie geht es weiter in Berlin?“ Die Unterzeile lautete: „Minderheitsregierung oder am Ende gar Neuwahlen - wie geht es weiter bei der Regierungsbildung?“

Minderheitsregierung als Drohkulisse

Eingangs wollte Anne Will wissen, ob Angela Merkels Aussage, sie könne sich eine erneute große Koalition vorstellen, den Druck auf die Parteien erhöht habe? Keiner der Polit-Gäste würde sich auf Festlegungen einlassen oder allzu heftig in die Prognosentrompete blasen, soviel war sicher. Stephan Weil, sozialdemokratischer Ministerpräsident von Niedersachsen, sprach zunächst, erwartbar, das Scheitern der Sondierungen der Kanzlerin zu. Die SPD werde nun nicht „mal eben wieder auf die Regierungsbank hüpfen“, kurzfristig erwarte er keine Entscheidung, nicht in diesem Jahr. Auch befinde sich das Land ja keineswegs in einer „Staatskrise“, allenfalls in einer Regierungskrise. Mehr polarisierte er in der Folge nicht.

Rigorose Ablehnung der großen Koalition war von Weil nicht zu hören, allenfalls Hinweise darauf, dass das Szenario einer Minderheitsregierung sich als Drohkulisse und Pfand im Handel nutzen lässt. Es gebe auch jenseits der großen Koalition Möglichkeiten der Zusammenarbeit, meinte Weil einmal. Vor allem aber, erklärte er, müsse gleich am Anfang einer neuen Regierung der gemeinsame Auftrag stehen, Verbindendes, klare Ziele, etwa zur Absicherung gegen Altersarmut.

Armin Laschet, munter-optimistischer Ministerpräsident der CDU in Nordrhein-Westfalen, will mit der Kanzlerin in Richtung GroKo. Eine „schlechte Option“ sei die Minderheitsregierung, sie biete „nicht die Stabilität“, die Europa angesichts von Brexit und anderen Krisen derzeit brauche. Ja, sieht Laschet, die Situation ist neu: „Sowas hat Deutschland in 68 Jahren nicht erlebt!“ Daher sei der Appell der amtierenden Kanzlerin richtig, und die große Koalition konsequenterweise „der nächste Versuch“, die erforderte Festigkeit zu finden. Es sei nicht der Zeitpunkt, über diverse andere Optionen nachzudenken. Ob er der Meinung sei, dass die SPD da mitmachen werde, möchte Anne Will erfahren. Laschet kann zwar nicht für die SPD sprechen, scheint jedoch zu hoffen, dass diese ihre Basis allmählich überzeugen wird vom Kurswechsel, sie abbringt vom kategorischen bis beleidigten „ohne uns“.   

Grüne wollen "nerven"

Für die Grünen war deren Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt in den Ring gestiegen, und favorisierte an diesem Abend mehrmals die Formel „wir nerven“, wie es die grüne Basis erwartet. Sie beklagte einen „gravierenden Naturverlust in den vergangenen Jahren", ja, man könne sagen: „Die Natur bräuchte jetzt Neuwahlen“. Erderwärmung, Klimaflüchtlinge, Kohleausstieg – was da im Argen liegt, das lassen sich die Grünen nicht ausreden. Damit müsse man rechnen, mahnte Göring-Eckart, wohl in Hinblick auf eine Minderheitsregierung, „wenn man von uns Stimmen haben will.“

Dem einzigen Nicht-Politiker der Runde, Ulrich Battis, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, blieb es vorbehalten, das in der Werft aufgebockte Schiff von außen zu betrachten, beziehungsweise auf den Stapellauf eines neuen, seetüchtigen Schiffes zu weisen. Dass die Kanzlerin innerhalb von drei Tagen ihre Meinung ändern konnte rechnet er ihr hoch als Flexibilität an. "Zielführend", so Battis, wäre zunächst der Versuch, erneut eine große Koalition zu formieren, doch eine Minderheitsregierung könne zur Sternstunde des Parlaments werden.  

Im Disput um Flüchtlinge, Familiennachzug, Obergrenzen entwarf Göring-Eckart vorübergehend spekulative Szenarien. Es müsse gesichert sein, „was passiert, wenn es mehr Flüchtlinge“ gebe, wenn etwa Russland die Ukraine einnähme, wenn dann viele ins Land drängen würden, wenn, wenn. Stephan Weil bekräftigte das klare Bekenntnis der SPD für ein Grundrecht auf Asyl, mahnte allerdings, eine ungeregelte Notsituation wie im Spätsommer 2015 dürfe "sich nicht wiederholen". Mit dem sacht eingebrachten Hinweis darauf, dass sich in diesen Fragen am großen Rechtsrahmen gar nicht rütteln lässt - „im Grunde ist das alles längst Völkerrecht“ – ließ der Jurist Battis fast unmerklich die Luft aus dem Thema, und die Runde kehrte von der unseligen "Obergrenze" und deren Konnotationen zurück zur GroKo-Thematik.  

Steinmeier als Hoffnung

Vergebens mühte sich Anne Will, Stephan Weil kritische oder negative Aussagen zu Martin Schulz zu entlocken. Sie testete die bei Journalisten leider immer beliebter werdenden Suggestivfragen an Interviewpartner mit Wendungen wie „aber war es nicht falsch, dass…“, „aber haben Sie nicht selbst gesagt…“  Eingeblendet wurden dazu jüngste Aussagen, in denen Jusos beteuert hatten: „Wir sind das Bollwerk gegen die große Koalition!“ Wenig überraschend reagierte Weil mit schützenden Formulierungen wie der, dass es nun um „sehr ernsthafte Gespräche“ gehe.  

Erkennbar sprang ihm Armin Laschet bei, und lehnte noch einmal die Idee der Minderheitsregierung ab. Handlungsfähig könne Deutschland in Europa so nicht werden. Darin, „irgendwie“ Mehrheiten zu sammeln, könne er sich keine Sternstunde der Demokratie vorstellen, selbst wenn solche Regierungen, in Skandinavien etwa, erfolgreich erprobt wurden. Seine Hoffnung setzt Laschet unter anderem in die derzeitige Mittlerposition von Bundespräsident Steinmeier, der die Akteure einen nach dem anderen zu sich ruft. In der Entscheidung der FDP erkennt Laschet „keine kluge Sache“, enthielt sich aber weiterer Kommentare.  Zuversichtlich zeigte er sich angesichts der pro-europäischen, christlichen Kerne der Mehrheit. Beeindruckend ist die demokratische Schnittmenge: Das könnte als das Leitmotiv über der Runde leuchten.   

Bei den Sondierungen seien Frau Merkel und sie, erinnerte Katrin Göring Eckart, meist die einzigen Frauen im Raum gewesen – irgendwann, teilte sie wie für sich selber - oder einen Literaturagenten - mit, werde sie darüber vielleicht ein Buch schreiben. Sorge bereiten ihr an erster Stelle die Rechtspopulisten der AfD im nun „völlig veränderten“ Parlament. „Wir werden die härteste Opposition machen, die wir je gemacht haben!“ kündigte sie an. Battis, auch hier der Gelassenste, suchte zu beruhigen: „Sie malen zu schwarz!“ Die Rechtsfraktion sei kleiner als in vielen anderen Staaten. 

Sauer auf FDP-Chef Lindner

Könnte das parlamentarische Werben um Mehrheiten Bewegung in den Bundestag bringen, eine Minderheitsregierung mehr Transparenz?  Auch Stefan Weil hält gar nichts von einem „frei fließenden Parlament“. Mit Armin Laschet war er sich staatstragend einig in der Forderung nach Handlungsfähigkeit und Stabilität. Doch die Lage treibt ihn um. Entrüstet fügte er hinzu: „Ich weiß gar nicht, ob dem Herrn Lindner bewußt ist, was er da angerichtet hat.“ Ansonsten war vom enfant terrible der Politik hier nicht die Rede - Christian Lindners kalkulierter Griff ins Ruder spielt in der neuen Konstellation keine Rolle mehr. Der Mann ist von Bord.

Ulrich Battis freute sich, dass der Bundespräsident „die ungezogenen Kinder zur Brust genommen hat“, und dass das binnen weniger Tagen bereits Erfolge gebracht habe. Der ganze aktuelle Prozess hat Zeit, beschied er Anne Will auf die Frage nach Rechtslage und Tempo. „In angemessener Frist“ kann der Bundespräsident laut Grundgesetz eine Regierungsbildung veranlassen, das sei, so Battis, „alles nicht so dramatisch wie es sich anhört.“

Auch wenn hier und da gestritten wurde, zu ahnen war: CDU, SPD wie Grünen haben die vier Wochen in Klausur so gut getan, wie eine Gruppentherapie. Offenbar hat man einander in der Dynamik an Deck des Dampfers neu und besser kennengelernt, auch ohne in Jamaika anzukommen. Mitten auf dem virtuellen Karibikmeer war der Weg das Ziel, die Reise selber ein Resultat. Noch dem provozierten Schiffbruch kann die Verständigung, so der Eindruck, vorangetrieben werden, bis das Schiff wieder runter ist von der Werft.

Zur Startseite