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Die gefeierte Autorin Bella (Michaela Coel) wirft die Gewalt, die ihr angetan wird, aus der Bahn.

© HBO

TV-Premiere „I May Destroy You“: So hat noch keine Serie über sexuellen Missbrauch gesprochen

Die britische Komikerin Michaela Coel hat eigene Erfahrungen verarbeitet. "I May Destroy You" ist einer der Fernseh-Höhepunkte des Jahres.

Von Andreas Busche

2018 hielt die Autorin und Komikerin Michaela Coel auf dem Fernsehfestival in Edinburgh die prestigeträchtige MacTaggart-Keynote, die in der britischen Unterhaltungsindustrie für Aufsehen sorgte. Coel sprach darüber, was es bedeutet, in ihrer Branche auszusehen wie sie, über Präsentkörbe bei Awards-Verleihungen, die Concealer enthielten, die selbst für Kim Kardashians Haut zu hell wären, und über Produzenten, die die Macht besitzen, ihre Stimme und Erfahrungen zu kontrollieren.

Kurz zuvor hatte sie einen Netflix-Deal über eine Million Dollar abgelehnt, weil sie ihre Urheberinnenrechte an den Streamingdienst hätte abtreten müssen. Als Tochter ghanaischer Eltern empfahl Coel allen Frauen und Männern, die dieses Gefühl der Isolation mit ihr teilen, ihre Fremdheit mit Humor zum Ausdruck zu bringen. „Wenn du dich an das Gefühl der Entfremdung gewöhnt hast, wie kannst Du darüber lachen?“

Ihre zwölfteilige Serie „I May Destroy You“, eine Ko-Produktion von HBO und BBC, unterstreicht, was für eine außergewöhnliche Stimme Michaela Coel in der aktuellen Unterhaltungsindustrie (nicht nur der britischen) ist – und wie wichtig es ist, sie zu hören. Wie ihr Seriendebüt „Chewing Gum“ von 2015 – brüllend komische, absurde und nachdenkliche Vignetten über eine ghanaische Familie in London – beruht „I May Destroy You“ auf autobiografischen Erfahrungen.

Es gäbe Überschneidungen zwischen ihr und ihrer Figur Arabella (gespielt von Coel selbst), einer gefeierten Autorin und Social-Media-Celebrity mit Schreibblockade, erzählt sie in Interviews. Die entscheidende Parallele aber ist auch der Hauptgrund, warum sie so vehement für ihre Autorenschaft kämpfte: Coel wurde 2016, während sie an der zweiten Staffel von „Chewing Gum“ arbeitete, Opfer einer Vergewaltigung. In einer Bar kippte ihr jemand KO-Tropfen in den Drink, der Rest der Nacht verschwand im Nebel.

Stück für Stück setzen sich die Bilder zusammen

So endet auch die erste Episode von „I May Destroy You“, nach einer chaotischen Tour durch Verlagsbüros und Londoner Clubs. Die exaltierte Bella, die sich hinter ihrer rosafarbenen Langhaarperücke regelrecht zu verstecken scheint, wacht mit einer unerklärlichen Platzwunde am Kopf auf, ohne Orientierungssinn. Die junge Frau dabei zu begleiten, wie sie Stück für Stück die dissoziierten Bilder in ihrem Kopf zusammensetzt, um sich schließlich einzugestehen, vergewaltigt worden zu sein, ist ein schmerzhafter Prozess, der kein Detail ausspart. Bis hin zur Spurensicherung auf dem Revier, wo zwei Polizistinnen Bellas Erinnerungen protokollieren.

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Auch die Anteilnahme ihrer Freundin Terry (Weruche Opia) und Kwames (Paapa Essiedu), der sein Liebesleben mit Grindr-Dates füllt, geben Bella keinen Halt, die zunehmend in ein Borderline-Verhalten abdriftet. Sie ignoriert auch die Anrufe ihrer Verlegerin, die auf die Deadline für den Nachfolger ihres Sensationsdebüts „Chronicles of a Fed-up Millennial“ pocht.

(Ab Montag auf Sky)

In den USA und England gilt „I May Destroy You“ seit der Premiere im Juni als Serie der Stunde. Sie eröffnet noch einmal eine Debatte, die trotz Weinstein-Enthüllungen, „MeToo“ und Brett-Kavanaugh-Anhörungen immer noch ressentiment-behaftet ist: Wo verläuft die Grenze zwischen einvernehmlichem Sex, Missbrauch und Vergewaltigung? Und wie kann es sein, dass sich die Opfer schuldig fühlen?

Dating-Apps und Instagram als Grundversorgung

Coel macht es ihrem Publikum nur insofern leicht, als sie über eine phänomenale Situationskomik und Körpersprache verfügt, die die traumatischen Erinnerungen abfedern. Aber ihre Momentaufnahmen aus dem Leben von Millennials, für die Dating-Apps und Instagram zur Grundversorgung gehören, spielen auch völlig unterschiedliche Formen des Missbrauchs durch – selbst solche, sich zunächst lediglich übergriffig anfühlen.

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Warum ist Arabella also bloß wütend, als sie merkt, dass ihr One-Night-Stand beim Sex heimlich das Kondom abgestreift hat? Auch Terry fühlt sich nur hintergangen, weil sich ein vermeintlich spontaner Dreier als abgekartete Sache herausstellt. Dass Missbrauch eine Frage von Privilegien ist, und dabei durchaus komplex, zeigt die Geschichte der weißen Theo (Harriet Webb), die eine Gruppe für „Überlebende“ von sexualisierter Gewalt gegründet hat.

Bella kennt Theo noch aus der Schule, sie hat damals einen schwarzen Klassenkameraden der Vergewaltigung bezichtigt, nachdem er Videos von ihrem Quickie ins Netz gestellt hat. In einer einzigen Episode wird Theo von der Therapeutin zum Opfer zur Täterin. „Weiße Tränen sind eine Waffe“, sagt die junge Bella über ihre Mitschülerin.

Sex ist in „I May Destroy You“ aber nicht nur traumatisch. In einer der schönsten Sexszenen der jüngeren Zeit spielt ein blutiger Tampon eine Rolle. Und eine Grindr-Bekanntschaft kocht Kwame beim ersten Date das Nationalgericht seiner Heimat. Darin liegt das eigentliche Kunststück Michaela Coels: dass sie nicht nur, in einer denkwürdigen letzten Episode, das Mittel zur Selbstheilung mitliefert. Sondern auch die Freundschaft, den Sex und das (Über-)Leben in allen Facetten feiert.

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