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Um die Emotionen einer Angela Merkel zu entdecken, muss man schon genau hinschauen. Torsten Körner hat es für sein TV-Porträt getan.

© MDR/Broadview TV

TV-Porträt „Angela Merkel - Im Lauf der Zeit“: Nähe mit Distanz

„Im Lauf der Zeit“ - Torsten Körners Filmporträt rückt Angela Merkel auf die Pelle. Zuerst auf Arte, später im Ersten.

Die Nähe zur Macht ist ein zweischneidiges Schwert. Zu wenig davon macht einflussarm, zu viel davon süchtig. Den Mittelweg zu finden ist gerade für Journalisten nicht einfach – und eine Kernkompetenz von Torsten Körner. Der angesehene Dokumentarfilmer, dem das Dokumentarfilmen vor sechs Jahren aus seiner langjährigen Tätigkeit als Medienkritiker erwuchs, ist so nah dran an der Macht, dass ihm selbst berühmteste Protagonisten zufliegen wie Wespen dem Bienenstich. Nicht ungefährlich, wie gesagt. Denn so ein Zuspruch kann selbstgerecht machen, eitel und satt.

Torsten Körner jedoch bleibt ungeachtet aller Erfolge selbstlos, bescheiden und hungrig genug fürs nächste Standardwerk beobachtender Anteilnahme ohne Presenter-Allüren. Anderthalb Legislaturperioden, nachdem er Angela Merkel als „Die Unerwartete“ porträtiert hat, widmet ihr der preisgekrönte Publizist nun eine Art Lebensresümee.

Und trotz zweier Exklusivinterviews, trotz Gesprächspartnern vom Kaliber Barack Obamas, trotz sperrangelweit offener Türen in diverse Entscheidungszentren, schafft er es 90 Minuten lang, mittendrin Distanz zu wahren und doch empathisch zu bleiben. Ein bisschen wie sein Berichtsobjekt also.

[„Angela Merkel – Im Lauf der Zeit“, Dienstag um 20 Uhr 15 auf Arte; 27.2. um 21 Uhr 45 in der ARD]

Denn die abgedankte Kanzlerin, das konnten selbst 16 Jahre Regierungsspitze nie ganz verbergen, hat sich auch in Amt und Würden ihre Emotionen bewahrt. Nur, dass man schon so genau hinsehen muss wie Körner, um sie zu entdecken, vor allem aber: die Gründe, sie geflissentlich versteckt zu haben. Als Fortsetzung seiner Studie „Die Unbeugsamen“, wo deutsche Politikerinnen männliche Seilschaften der Bonner Republik anprangern, setzt „Angela Merkel – Im Lauf der Zeit“ die maßgebliche Frau der Berliner Republik nämlich zunächst ins Säurebad reaktionärer Platzhirsche.

Das erste von acht Filmkapiteln ist kaum zufällig mit „Männermacht“ betitelt. Und wenn zwei Komparsen die elf Buchstaben über einem Programmkino aus Wirtschaftswunderzeit anbringen, wird auf dekorative Art deutlich, dass sie Merkels Vergangenheit mehr noch geprägt haben wie ihre, ergo: unserer Gegenwart.

Als die Hamburgerin aus Templin Anfang der 90er Jahre vom ostdeutschen CDU-Neuling übers Bundesfamilienministerium in die Parteispitze vordrang, wo sie Anfang der Nuller gar zur Königsmörderin wurde, waren gläserne Decken schließlich noch aus dem Panzerglas altrechter Alpharüden vom Schlage Manfred Kanthers.

Der paternalistische Minister

Der Innenminister habe die Umweltministerin stets „gnädige Frau“ genannt, was diese Frau jetzt gnädig „als nicht sexistisch, aber paternalistisch“ bezeichnet und dabei ihre Mimik ironischer Teilnahmslosigkeit aufsetzt. Hier anzusetzen, nicht in der Uckermark, wo Merkels frühe Begleiter wie Mutter Herlind oder Nachbar Ulrich Matthes vier Kapitel später das Wesen der jungen Angie deuten, ist Körners diverser Clou.

Nur wer die Misogynie der Mehrheiten versteht, durchschaut nämlich Merkels androgynen Panzer. Wenn die Mächtigen Gefühle zeigen, schildert Theresa May ein Patriarchat, dem ihre Amtskollegin zum Opfer fiel, „wird es Frauen als Schwäche ausgelegt, Männern hingegen als Stärke“.

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Von diesem Paradoxon aus erforschen die 90 Filmminuten Merkels Beharrlichkeit unter Krisenbedingungen. Euro und Banken, Flüchtlinge und Klima, Trump und Corona: jeder Regierungstag die Summe kumulierter Katastrophen. Aber keine davon war unverwüstlicher als die Frauenfeindlichkeit junger wie alter Testosterontanks von Friedrich Merz 2007 bis Friedrich Merz 2021. „Sie wusste, wie wichtig es ist, strategische Geduld zu haben“, erklärt Parteikollegin Ursula von der Leyen den weiblichen Zwang zur Geschlechtslosigkeit, „sonst hätten die Männer sie weggebissen“.

Warum Angela Merkel gut zwei Jahrzehnte Chefin im Rudel blieb, ohne – zumindest öffentlich – die Zähne zu fletschen, zeigt Körners Porträt abermals mit dezenter Brillanz. Wie zuletzt in seiner fabelhaften Rassismus-Studie „Schwarze Adler“ braucht er schließlich weder Splitscreens noch Animationen, um sein Material zur plöddernden Caféhausmusik von Stefan Düring gepaart mit dem Who’s Who des politischen Europas am Mikro wirken zu lassen.

Was „Angela Merkel – Im Lauf der Zeit“ so eindrucksvoll macht, ist das seltene Talent, Menschen mit gebührendem Abstand auf die Pelle zu rücken. Torsten Körner kann das. Es ist seine Kernkompetenz. Und nicht die einzige.

Jan Freitag

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