zum Hauptinhalt
Auf ins gelobte Merkel-Land. Kaum hat sich herumgesprochen, dass die Bundesregierung mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze die deutschen Grenzen geöffnet hat, brechen am 4. September 2015 die Flüchtlinge am Keleti-Bahnhof in Budapest auf.

© WeltN24

TV-Doku "Völkerwanderung": Erst Euphorie, jetzt Ernüchterung

Die Doku-Serie „Völkerwanderung“ von Stefan Aust und Helmar Büchel schreibt das Fernsehprotokoll zur Flüchtlingskrise von 2015 bis 2018.

Die Dokumentation provoziert. Sie zwingt den Zuschauer zur Stellungnahme. Was hast Du gedacht und gemacht, damals Anfang September 2015, als Bundeskanzlerin Angela Merkel entschied, die deutschen Grenzen für Tausende, Hunderttausende, mehr als eine Million vor allem syrische Flüchtlinge zu öffnen? Welche Bilder sind noch da, stimmt die Erinnerung mit den Fakten überein oder hat die Einstellung zum Thema mittlerweile einen eigenen, individuellen Film gesampelt?

Solche Fragen inklusive aller möglichen Gefühlsamplituden sausen durch den Kopf, und zwar nicht nur für den Moment, sondern über fünfmal 50 Minuten. So lange dauert „Völkerwanderung“, die Dokumentarserie in fünf Teilen, die das bewährte Gespann Stefan Aust und Helmar Büchel für Spiegel Geschichte kompiliert haben. Dessen Programmdirektor Michael Kloft sagte bei der Pressevorführung in Berlin, der 4. September 2015 sei der wichtigste Tag in der neueren Geschichte Deutschlands. Darunter macht es das ehrgeizige Projekt nicht, das die gut drei Jahre vom Herbst 2015 bis zum Dezember 2018 schildert.

Die Autoren wollten, so berichtet Stefan Aust, ein Protokoll, eine chronologische Erzählung, wie sich Deutschland und Europa als Konsequenz der Völkerwanderung grundlegend verändert haben – und noch verändern werden. Für das Phänomen der Migration gibt es in dieser wie in der Perspektive der Menschheitsgeschichte keinen Anfangs- und keinen Endpunkt: Menschen verlassen ihre angestammte Heimat, wann immer, wo immer, aus welchen Gründen auch immer: Krieg, wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit, politische Perspektivlosigkeit. Etwas Besseres als den Tod findest du überall, wahrlich nicht nur ein Stadtmusikantenmotto.

Europas offene Tore

Der erste Teil legt dafür die Grundlage, indem Motive und Zwangslagen der Millionen Menschen aufgezeigt werden, die vor dem Krieg in Syrien, vor dem Islamischen Staat im Nahen und Mittleren Osten geflohen sind und oft seit Jahren in den Flüchtlingslagern im Libanon, in Jordanien und der Türkei ausharren. Diese Menschen machen sich auf den Weg zu den offenen Toren Europas. Gestern, heute, morgen: Quasi im Schlussbild sitzen Menschen auf den sechs Meter hohen, spitzzahnigen Zäunen, die die spanische Enklave Ceuta an Marokkos Küste vor den Nicht-Willkommenen aus Afrika schützen soll. Sie werden das Hindernis zum angenommenen gelobten Land nehmen, das da EU heißt. Die Grenzen sind offen, lautet das Schlusswort.

„Völkerwanderung“ schaut dahin und dorthin und interessiert sich im Kern für die Ethnologie des Inlands, für die Deutschen und die Flüchtlinge. Von der Euphorie zur Ernüchterung, von Merkels Optimismus „Wir schaffen das“ bis zum populistischen Wutschrei „Wir hassen das“. Teil drei wird da exemplarisch, wenn der 28. Oktober 2015 zum Exempel genommen wird für den Flüchtlingsherbst, als die offene Balkanroute zur Autobahn nach Deutschland wird, Leid, Angst, Hoffnung, Überforderung sich mischen. Auch der Weihnachtsmarkt-Attentäter von Berlin, Anis Amri, zieht seine Spur durch die Filmreihe.

„Völkerwanderung“ ist der Blick zurück, ohne dass damals Beteiligte und Verantwortliche den Blick zurückwenden. Es gibt keine Interviews zur Frage, ob damals anders hätte gehandelt werden müssen. Die Dokumentation lebt im und vom Moment des Geschehens, des Geschehenen. Das Material von Spiegel TV und N 24 atmet den Duktus des früheren Spiegel-TV-Chefredakteurs Stefan Aust: Bewegung nur vor der Kamera, niemals durch die Kamera, der Reporter bleibt unbedingt unsichtbar. Das hat etwas Unmittelbares, begründet jene Authentizität, die sich Ausschnitt für Ausschnitt einstellt. Die fortschreitende Zeit strukturiert den Rhythmus, eingeblendete Daten und Karten geben Orientierung.

Kritik am Kurs der Kanzlerin

Stefan Aust spricht aus dem Off, manchmal werden seine Beiträge zu Kommentaren, die Sarkasmus und Kritik an der Kanzlerin nicht scheuen. Dem Anschein nach hat Stefan Aust schon damals gewusst, was manche noch heute nicht wissen wollen. „Mama Merkel“, wie die Flüchtlinge die Kanzlerin lobpreisen, wird Austs Freundin nicht mehr werden.

Soll so sein, denn da sind die Filmemacher Aust und Büchel, die etwas Bemerkenswertes geschaffen haben. Ihre Kompilation, ihr Narrativ kann wesentlich dazu beitragen, dass die Aufarbeitung der massenhaften Migration nach Deutschland in die Realität und ins Bewusstsein der Deutschen hinein beginnt. „Völkerwanderung“ ist ein erster Schritt und ein zweiter dazu. „Völkerwanderung“, Spiegel Geschichte, fünf Teile vom 25. bis zum 29. März, jeweils um 21 Uhr 45; Free-TVPremiere im September auf Welt

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false