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Auf Geheiß des Internationalen Olympischen Komitees mussten die Teams der Bundesrepublik und der DDR 1964 unter einer gemeinsamen Flagge antreten – obwohl Deutschland seit drei Jahren durch eine Mauer getrennt war.

© rbb/IOC

TV-Doku über Olympia 1964: Widerwillig vereint

Thomas Grimms Dokumentarfilm „Die kalten Ringe“ erinnert an das Kräftemessen im gesamtdeutschen Team von Tokio 1964.

Tokio, sagt Willi Holdorf, das sei so weit weg gewesen, „als wenn Sie mich heute auf den Mond schießen würden“. Der Norddeutsche, bei Bayer Leverkusen aktive Holdorf wurde 1964 im fernen Japan der erste deutsche Zehnkampf-Olympiasieger. Während des Wettkampfs gratulierte er bereits einer Teamkollegin zu Gold: Karin Balzer aus Magdeburg gewann den 80-Meter-Hürdensprint.

Beide Sport-Legenden sind mittlerweile verstorben, aber in der Dokumentation „Die kalten Ringe“, die das Erste am Montag wenige Tage vor Beginn der Spiele in Tokio ausstrahlt, sind sie noch einmal zu sehen. Balzer erinnert sich, sie habe in Tokio lieber Abstand zu Holdorf gehalten, denn allzu intensiver Kontakt mit West-Athleten war DDR-Sportlerinnen und -Sportlern verboten.

[„Die kalten Ringe“, ARD, Montag um 23 Uhr 35]

Dabei waren sie am 10. Oktober 1964 bei der Eröffnung gemeinsam ins Stadion marschiert, hinter einer schwarz-rot-goldenen Flagge mit den fünf olympischen Ringen in Weiß. Auf Geheiß des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) musste gut drei Jahre nach dem Mauerbau noch einmal ein gesamtdeutsches Team antreten.

Die erzwungene sportliche Wiedervereinigung mitten im Kalten Krieg führte schon im Vorfeld der Spiele zu einem brisanten Kräftemessen zwischen Ost und West, wie Filmautor Thomas Grimm mit zahlreichen Interviews und filmischen Archiv-Fundstücken schildern kann.

Eigentlich hatte die Bundesrepublik die Sportbeziehungen zur DDR nach dem 13. August 1961 eingestellt, nun mussten Ausscheidungswettkämpfe in beiden Teilen Deutschlands organisiert werden. Mehr als 50 000 Zuschauer wollten zum Beispiel in Karl-Marx-Stadt das Fußballspiel zwischen der DDR und einer westdeutschen Amateur-Auswahl sehen. Und weil sich das Fernsehen (West) einfach der Übertragung des Fernsehens (Ost) anschloss, kommentierte DDR-Sportreporter Heinz-Florian Oertel ausnahmsweise für ein gesamtdeutsches Publikum. Die Presse (West) schäumte, der „Tagesspiegel“ beschwerte sich über die „SED-Propaganda“. Zumal die DDR 3:0 gewann.

„Republikflucht“ durch den Lastenaufzug

Wettkämpfe in der Bundesrepublik sorgten in anderer Hinsicht für Schlagzeilen. Vor den Ausscheidungsrennen der Bahnradsportler in Köln nutzte Jürgen Kissner die Gelegenheit zur „Republikflucht“, die hier nur eine Fahrt mit dem Lastenaufzug im Hotel entfernt war. Die Ost-Presse behauptete: „Menschenraub am Kölner Dom.“ Beide Bahn-Vierer zählten zur Weltspitze, aber ohne Kissner verlor das durcheinander gewürfelte DDR-Team. Und so kann heute der Krefelder Lothar Claesges stolz seine Goldmedaille von 1964 in die Kamera halten.

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Im Schwimmen wiederum gewann eine aus West- und Ost-Sportlern gebildete Freistil-Staffel mit Europarekord die Silbermedaille. Dabei entstanden freundschaftliche Beziehungen: Der Dresdner Frank Wiegand weigerte sich nach den Tokio-Spielen, seine Sportkameraden aus dem Westen vor seiner Hochzeit wieder auszuladen. Auch um das Spitzenamt der Funktionärs-Delegation entbrannte ein heißer Wettstreit. Denn wer das größere Kontingent stellte, berief auch den gesamtdeutschen Teamchef.

1956 und 1960 war das noch eine klare Angelegenheit für den Westen, doch die DDR hatte mit systematischer Nachwuchsarbeit aufgeholt und stellte mit 194 Athletinnen und Athleten einen etwas größeren Anteil an der deutschen Olympiamannschaft. Also wurde DDR-Funktionär Manfred Ewald, der den Aufschwung des DDR-Sports organisierte und nach der Wiedervereinigung wegen Körperverletzung infolge des Staatsdopings vor Gericht gestellt wurde, Chef de Mission in Tokio 1964. Anschließend wurde sogar über die Einkleidung der Olympiamannschaft lange gerungen. „Auch das Modische ist politisch“, kommentiert Grimm.

Brillante Bilder in Farbe

Der Autor schöpft aus einem reichen Fundus eindrucksvoller Filmdokumente der Sporthistorie. Während viele Aufnahmen noch schwarz-weiß und unscharf sind, erscheinen die farbigen Bilder von den Spielen 1964 in Tokio umso brillanter. Außerdem kann sich der 1954 in Aue geborene Filmemacher aus den zahlreichen Interviews bedienen, die er im Lauf der Jahre für seine 1989 gegründete Berliner Firma Zeitzeugen TV geführt hat.

[Die Langfassung im Internet: https://www.bpb.de/mediathek/322655/die-kalten-ringe]

Während im stark formatierten ARD-Programm nur der 45-minütige Geschichts-Sendeplatz am Montagabend zur Verfügung gestellt wurde, findet sich in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung eine 86-minütige Langfassung von „Die kalten Ringe“. Sie enthält mehr Details auch zu anderen Disziplinen wie Stabhochsprung und Segeln – und den übermütigen Sprung von Willi Holdorf, der barfuß auf dem Siegertreppchen beinahe ausgerutscht wäre.

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