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Die Betreiber von Facebook, Twitter und Youtube definieren ihre eigenen Regeln. Die Politik, aber auch die Medien, begeben sich in eine erhebliche Abhängigkeit, wenn sie in ihren Strategien zu stark auf die sozialen Netzwerke setzen.

© Franz-Peter Tschauner/dpa

Soziale Netzwerke: Ein Ort für den zivilen Streit

Politik und Journalismus befinden sich im Zwiespalt: Wie soll mit den digitalen Plattformen umgegangen werden? Eine Standortbestimmung.

Nein, die deutsche Politik unterschätzt das Internet nicht mehr. Sollte dafür noch ein Beweis notwendig gewesen sein, so hat ihn Grünen-Vorsitzender Robert Habeck zu Jahresbeginn erbracht, als er sich bei Twitter und Facebook abmeldete. Die Resonanz auf seine digitale „Entgiftungsaktion“ war unter Politikern und Journalisten auffallend groß.

Habeck begründete seinen Schritt mit seiner Rolle als Betroffener und Verantwortlicher: Er war mit seiner Familie Opfer eines Datenklaus geworden. Zugleich sah er in seinem Video zur Thüringen-Wahl einen Fehler – getriggert durch Twitter, wie er selbst eingestand. Im Februar zog Angela Merkel nach, als sie ihr persönliches Facebook-Profil schloss.

Die Zeiten sind vorbei, als deutschen Politikern ihr Fehlen im Netz vorgeworfen wurde. Im Wahlkampf 2017 waren die Bundestagsabgeordneten fast vollzählig in den sozialen Medien anzutreffen. Knapp zwei Drittel waren auf Facebook und Twitter aktiv. Nur drei Prozent waren ganz ohne Account. So das Ergebnis einer Studie des Hamburger Hans-Bredow-Instituts. Mittlerweile fällt auf, wer nicht dabei ist – oder den sozialen Medien wieder den Rücken zukehrt.

Ob es den einzelnen Politikern viel bringt, ist durchaus fraglich. Die einzige Untersuchung, in der geprüft wurde, ob Kandidaten durch ihre Online-Aktivitäten Wählerstimmen gewinnen, ist fast zehn Jahre alt. Der Befund der Münsteraner Forscher damals: Es bringt fast keine Stimmen. Dies mag mittlerweile anders sein. Der harte Nachweis steht aber aus.

Erhebliche Abhängigkeiten

Doch nicht nur die Politik, sondern auch der Journalismus ist in den sozialen Medien präsent: Die Online-Redaktionen von Presse und Rundfunk arbeiten in Deutschland längst mehrkanalig und nutzen vor allem Facebook, Twitter, Youtube und Instagram. Dorthin verlagern sie viele Aufgaben wie das Publizieren, die Recherche, die Diskussion und das Publikums-Monitoring.

Damit begeben sie sich in eine erhebliche Abhängigkeit von Plattformen, deren Betreiber Regeln und Erfolgsbedingungen definieren. Ihre Aktivitäten werden zunehmend fremdbestimmt. Dies gilt auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der vor allem mit seinem Jugendangebot „funk“ die sozialen Medien nutzt. Als Mittel gegen den „Generationenabriss“ soll die junge Zielgruppe dort erreicht werden, wo sie sich aufhält.

Politik und Journalismus geraten immer weiter in einen Zwiespalt: Einerseits nutzen sie soziale Medien intensiv als Kommunikationskanäle für eigene Zwecke und steigern damit ihre Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung. Andererseits sollen sie ein kritisches Auge auf die Plattformbetreiber werfen, deren Markt- und Meinungsmacht steigt.

Auch das Publikum trägt dazu bei, wie die Zahlen des „Digital News Report 2018“ belegen: Knapp ein Drittel der Onlinenutzer in Deutschland gibt das Internet bereits als Hauptnachrichtenquelle an. Nur das Fernsehen ist noch wichtiger. Sieben Prozent beziehen ihre Nachrichten vor allem aus sozialen Medien. Unter den 19- bis 24-Jährigen informiert sich sogar ein Fünftel hauptsächlich auf Facebook, Youtube und WhatsApp.

Soziale Medien sind aber nicht nur eine wichtige Nachrichtenquelle, sondern auch ein Ereignisort, an dem mittlerweile wesentliche Teile des medienrelevanten Geschehens stattfinden. Ob es um Franck Ribérys Steak mit Blattgold oder die Urlaubsfotos der bayerischen Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze auf Instagram geht – Redaktionen finden hier ihre Themen, die sie über Massenmedien groß machen.

Das Wechselspiel zwischen Journalismus, sozialen Medien und Publikum bestimmt immer mehr die Agenda. Besonders offenkundig ist dies im Fall von Twitter. Lediglich vier Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung nutzen Twitter zumindest wöchentlich, ergab die letztjährige ARD/ZDF-Online-Studie. Dennoch sind Tweets häufig Anlass für Berichterstattung, weil Politiker und Journalisten den Dienst intensiv nutzen. Virtuos betreibt Donald Trump dieses Spiel, auch die AfD profitiert davon.

Lehrstück Habeck

Der Fall Habeck ist ein Lehrstück über Risiken und Nebenwirkungen sozialer Medien – über den Kontrollverlust in der digitalen Umwelt und die Verunsicherung des eigenen Handelns. Man muss sich immer wieder vor Augen halten: Menschheitsgeschichtlich ist es eine völlig neue Möglichkeit, dass nun prinzipiell jeder öffentlich auftreten und potentiell ein weltweites Publikum erreichen kann – gewollt oder auch ungewollt, zum Guten wie zum Schlechten.

Dieses Vermögen ist aber zugleich – anders als in den traditionellen Massenmedien – weitgehend ungeregelt. Zwar erreichen Presse und Rundfunk konstant ein großes Publikum, ihr Einsatz wird aber durch rechtliche und professionelle Normen gebändigt. Die Medienfreiheit ist ihrem Anspruch nach stets mit der Verantwortung gegenüber Publikum und Gesellschaft verbunden. Außerdem ist ihre Wirkung einigermaßen kalkulierbar: Sie entsteht durch den direkten Publikumskontakt, ihre Kausalität ist linear und gut erforscht.

Viel weniger berechenbar ist hingegen die Dynamik der Interaktionsketten, die in sozialen Medien angestoßen werden und weitreichende Effekte haben können. Schwer nachvollziehbar ist auch das Wirken der Algorithmen, welche die menschlichen Aktivitäten mitbeeinflussen. Umso größer, so wäre zu erwarten, muss das Verantwortungsbewusstsein der Plattformbetreiber sein – daran aber mangelt es. Ihr Geschäftsmodell basiert auf der Sammlung und Analyse von Daten, um Verhaltensprognosen aufzustellen.

Das bloße Gewinnen von Aufmerksamkeit, um noch mehr Daten zu gewinnen, fördert eine „radikale Indifferenz“ gegenüber der Qualität der Informationen, wie die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ kritisiert. Das Resultat sind Kollateralschäden für Demokratie und Gesellschaft.

Falsche Belohnungen für den politischen Diskurs

Die Plattformlogik schafft ein falsches Belohnungssystem für den politischen Diskurs. Soziale Medien sind eine Art Schlechte-Laune-Generator für das Gemeinwesen und können damit indirekt auch Wahlen beeinflussen. Die Gesellschaft, die sich im Spiegel der Medien beobachtet, bekommt ein verzerrtes Bild. Wer auffallen will, muss pointiert, provokant, aggressiv, negativ und schnell kommunizieren.

Diese Atmosphäre der „großen Gereiztheit“ (Bernhard Pörksen) ist das Gegenteil dessen, was als Ideal des politischen Diskurses gilt, nämlich der vielfältige, respektvolle, rationale und tiefschürfende Austausch von Argumenten. Der Selbstzweifel und die Bereitschaft, sich von besseren Argumenten überzeugen zu lassen, bilden den Kern eines deliberativen Verständnisses von Öffentlichkeit.

Im Internet kollabieren die Kontexte, die in der Alltagswelt helfen, sich in Situationen zurechtzufinden und sich angemessen zu verhalten. Wo – wie an vielen Stellen im Internet – solche Rahmenhinweise und Regeln fehlen, kann es zum Unterbietungswettbewerb kommen, der nur schwer zu stoppen ist. Dies fördert populistische Kräfte auf der Rechten und Linken, die von Wut, Angst und Abgrenzung profitieren. Für Regelverletzungen lassen sich im Internet erhebliche Prämien einstreichen:

Dass sich Fake News weiter und schneller verbreiten als verifizierte Meldungen, ist in einer Studie des MIT nachgewiesen worden, die 2018 in „Science“ erschienen ist. Doch nicht nur ein höherer Aufmerksamkeitswert winkt als Lohn, sondern auch der Beifall der Ängstlichen für die mutigen Regelbrecher. Regeln werden nämlich als Zensur und Ausdruck eines repressiven Systems gedeutet. Imaginiert wird eine Art Notwehrsituation, die außergewöhnliche Mittel rechtfertigen soll.

Spielräume für Propaganda

Weil in sozialen Medien in vielen Fällen keine „Gatekeeper“ die Qualität prüfen, eröffnen sich auch erhebliche Spielräume für Propaganda. Timothy Snyder, Osteuropa-Experte in Yale, zeigt in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit“, wie von russischer Seite Demokratien destabilisiert werden. So zeichnet er detailliert die Desinformationskampagne im Krieg gegen die Ukraine nach. Damit widerspricht er auch jenen Kritikern, die deutschen Medien eine antirussische Haltung vorwarfen.

Wie lässt sich die Abwärtsspirale von immer aggressiverer Rede und Gegenrede stoppen? Provokationen unbeantwortet zu lassen, rät das Motto: „Don’t feed the troll!“ Auch der in Oxford lehrende Historiker Timothy Garton Ash empfiehlt in seinem Buch „Redefreiheit“ eine „robuste Zivilität“, also keine zu große Empfindlichkeit und Erregungsbereitschaft. Rechtlich werden sich höchstens Mindeststandards etablieren lassen, wie es mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz versucht worden ist.

Wünschenswert wären darüber hinaus positive Gegenmodelle, also Orte des zivilisierten Streits – und zwar außerhalb der Plattformen. Dies ist eine Aufgabe des Journalismus und besonders des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der – so lautet sein Auftrag – den Prozess freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung fördern soll.

Christoph Neuberger ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt "Medienwandel" an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Christoph Neuberger

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