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Ziemlich schlechteste Freunde: Sean Wallace (Joe Cole, 3.v.r.) soll das kriminelle Erbe seines Vaters zusammenhalten.

© Sky UK

Sky-Serie „Gangs of London“: Bandenkrieg der Menschenschlachter

Die Sky-Serie „Gangs of London“ weidet sich neun Teile lang in expliziter Gewalt. Dabei kommentiert sie den entfesselten Kapitalismus äußerst virtuos.

Wenn bestialische Gewalt nicht nur ein Element, sondern das Wesen filmischer Darstellungen ist, spricht man gern von „Torture Porn“. Ein grässliches, vor allem aber zugkräftiges Wort zur Beschreibung einer Form von selbstreferenzieller Grausamkeit, die offenbar auch der neuesten Sky-Serie „Gangs of London“ (ab Donnerstag) zu eigen ist.

Bereits zur Hälfte des ersten von neun Teilen zerlegt ein halb nackter Mann in blutigen Boxershorts wehrlose Menschen, bevor er nach minutenlangem Kampf von grotesker Brutalität ins eigene Schlachterbeil läuft und bestens sichtbar verblutet. Töten, so lehren uns die „Gangs of London“ auch vor der Gewaltorgie im Folterpornokeller, ist mehr als nur Mittel zum Zweck unerbittlicher Bandenkriege; im Dunstkreis der organisierten Kriminalität ist Töten immer auch Ritual, Rache und ganz wichtig: Kommunikation.

Dieser Dreiklang geht jedem der vielen Tötungsdelikte voraus, von denen das zweite eine Art Basis aller nachfolgenden bildet: Finn Wallace (Colm Meaney), seit 20 Jahren Boss des mächtigsten Verbrechersyndikats der englischen Hauptstadt, wird – natürlich gut im Bild – erschossen. Und weil niemand weiß, welcher Wahnsinnige damit sein eigenes Todesurteil unterschrieben hat, läutet Finns Ältester Sean (Joe Cole) mithilfe des befreundeten Clans von Ed Dumani (Lucian Msamati) zur Jagd auf die Täter.

Parallelen zu "Gangs of New York"

Resultat ist ein Mafia-Stoff am Rande eines dysfunktionalen Gemeinwesens, das nicht nur dem Titel nach an „Gangs of New York“ erinnert. Wie in der US-Metropole des 19. Jahrhunderts kämpfen auch in der Bankenmetropole von heute Immigranten verschiedenster Herkunft ums illegale Geschäft – nur dass Showrunner Gareth Evans die Rollen vertauscht. Waren es bei Martin Scorsese alteingesessene Protestanten, die ihre Vormacht gegen zuwandernde Katholiken aus Irland verteidigen, sind Letztere im London der Gegenwart die Alteingesessenen im Abwehrgefecht mit Kurden, Albanern, Pakistani und als Reminiszenz der eigenen Unterdrückungsgeschichte: völlig verwahrlosten Walisern.

Anders als 2004 überbieten sich die Platzhirsche und Frischlinge 2020 beim Versuch, das neu entstandene Machtvakuum zum eigenen Vorteil zu füllen. Sie tun das nicht nur im Bemühen, ihre Gegner auf kreative Art unschädlich zu machen, sondern in einer Umgebung, die aller zivilisatorischen Fortschritte der vergangenen 170 Jahre zum Trotz anarchistisch wirkt wie das gesetzlose Five Points in „Gangs of New York“. Es ist daher kein Wunder, dass die Ordnungsmacht bei der Suche nach den Mördern von Finn Wallace allenfalls in verdeckter Ermittlungsmission auftaucht, während Kriminelle quasi Polizeiarbeit leisten.

Wunderbar ist es dagegen, wie routiniert Gareth Evans die Grade sozialer, menschlicher, moralischer Verwahrlosung in dieser nostalgiefreien Vendetta auch ohne klar definierte Gut-Böse-Schemata durchdekliniert. Wenn irgendwer am Boden ist, tritt er nach jenen, die noch eine Staubschicht tiefer liegen. Brüder verraten Brüder, Freunde hintergehen Freunde, Ehrencodizes dienen nur der Überzeugung, sie brechen zu müssen, weil die Verhältnisse nun mal so sind, wie sie sind.

„Töte mich nicht!“, bettelt ein namenloses Opfer, als Sean es zum Auftakt mit Benzin übergießt. „Ich kann nicht anders“, antwortet der Kronprinz ungerührt, wirft das Streichholz und liefert die Erklärung seiner Herzenskälte nach, als Papa Finn seinen Sohn dazu drängt, einen Feind zu erschießen. „Was hat er getan?“, fragt das Kind den Vater. Dessen Antwort: „Wir haben eine Übereinkunft.“

Anders als deutsche Produktionen

Diese Wortkargheit ist es auch, mit der sich „Gangs of London“ von deutscher Redundanz distanziert. Eine Szene wie jene, als Sean 30 endlose Sekunden lang schweigend am offenen Sarg seines Vaters steht und Mutter Marian mit den Augen allein offenbart, wie abgrundtief sein Hass ist, wie übermächtig sein Ehrgeiz, scheint in deutscher Produktion schlicht undenkbar.

Weil dem genretypisch männlichen Cast zudem ein paar tiefgründig starke Frauen wie Michelle Fairley zur Seite stehen, die als Frau des gleichermaßen früh getöteten Clanführers Eddard Stark eine ähnlich tragende Figur von „Game of Thrones“ verkörperte, ist „Gangs of London“ also weit mehr als selbstverliebter „Torture Porn“. Zwischen den Schmerzensschreien kommentiert jeder Gewaltexzess die wachsenden Abgründe einer entgrenzten Gesellschaft, die sich ihrer Errungenschaften sehenden Auges entledigt. Der Menschenschlachter im Folterkeller – mit etwas dunkler Fantasie ist es Donald Trump ohne Checks & Balances.

Jan Freitag

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